Zeugen mit Haut und Haar

Das Oberammergauer Passionsspiel ist ein religiöses Ritual
Gang nach Golgatha 2010: Jesus (Andreas Richter) und Maria (Ursula Burkhart). (Foto: dpa/ Straubmeier)
Gang nach Golgatha 2010: Jesus (Andreas Richter) und Maria (Ursula Burkhart). (Foto: dpa/ Straubmeier)
Ist "Zuschauer" die richtige Bezeichnung für Menschen, die nach Oberammergau pilgern, um der szenischen Darstellung der biblischen Passionsgeschichte beizuwohnen? Ist das Oberammergauer Passionsspiel pompöses Theater, ein rein "kulinarischer" Genuss oder vor allem ein religiöses Ritual?

"We are coming from Honolulu...", erzählt der Reiseleiter, ein Pastor aus Hawaii, als er in der American Church of Berlin das Mikrophon in Empfang nimmt, um sich und seine Gruppe der sonntäglichen Gemeinde vorzustellen: "... and we're here in Germany to make Oberammergau!" - Brandender Applaus am Anfang des Gottesdienstes. Oberammergau, Kürzel für das Oberammergauer Passionsspiel, für den Passion, wie die Oberammergauer sagen, ist nicht nur unter den Amerikanern ein großartiges Ereignis. Der Besuch in dem oberbayrischen Dorf lockt auch in diesem Jahr wieder hunderttausende nationale und internationale Zuschauer an, wie vor zehn Jahren.

Zuschauer oder Pilger?

Allerdings: Ist "Zuschauer" die richtige Bezeichnung für Menschen, die nach Oberammergau pil­gern, um der szenischen Darstellung der biblischen Passionsgeschichte beizuwohnen? Ist das Oberammergauer Passionsspiel pompöses Theater, ein rein "kulinarischer" Genuss, wie Bertolt Brecht es gegenüber dem Illusionstheater einmal sagte, ohne gesellschaftliche Veränderungskraft und ohne politische Tiefe; oder ist es immer noch und vor allem ein religiöses Ritual?

Vordergründig hat das Oberammergauer Passionsspiel viele Merkmale ei­ner klassischen Theateraufführung: Darsteller und Darstellerinnen bringen vor der Tribüne mit ihren 4720 Plätzen ein Schauspiel zur Aufführung, das in der Bildsprache und Tradition des bayrischen Volkstheaters steht. Der Eintrittspreis ist hoch. Touristische Pauschalpakete können gebucht werden, die eine Besichtigung Münchens und das Oktoberfest mit im Programm haben. So kann der Tourist an seinen deftigen Fremdbildern Bayerns und verbreiteten Klischees deutscher Identität zimmern. Auf den zweiten Blick lassen sich allerdings nach wie vor viele Elemente eines großen rituellen Kultfestes entdecken, das bemerkenswert evangelisch ist und im christlichen Abendland seinesgleichen sucht.

Ein Spiel, keine Aufführung

Zunächst zur Stiftungslegende dieser alle zehn Jahre wiederkehrenden Inszenierung des Evangeliums: Im Jah­re 1633 hatten die Oberammergauer Gott und den Menschen versprochen, sie würden alle zehn Jahre die Passion Jesu Christi als geistliches Spiel "spielen", wenn ihr Dorf von der Pest endlich verschont bliebe. Diese hatte bis dahin vielen das Leben gekostet. Von Passions-"Spielen" zu reden, scheint bis heute angemessener zu sein, als von einer "Aufführung" zu sprechen. Das Spiel ist wie das Ritual in erster Linie selbstreferenziell, das religiöse Spiel auf Transzendenz hin orientiert. Die Aufführung hingegen zielt auf Zuschauer ab. Es ist sicher kein Zufall, dass der Regisseur der Passionsspiele bis heute (nur) "Spielleiter" heißt. Das ordnet seine Rolle in das Gesamtgeschehen ei­ner Zeremonie ein, in dem Gott eine wesentliche Rolle spielt.

In einem klaren Tun-Ergehens-Zusammenhang steht die Begründung des Passionsspiels: Weil niemand danach mehr an Pest gestorben ist, müssen die Oberammergauer das Passionsspiel spielen - ein Ritual des Dankes, vielleicht sogar ein beschwörendes. Dann würde das Passionsspiel seitdem quasi automatisch Unheil vom sozialen Mikrokosmos Oberammergau in den Al­pen fernhalten und käme in die Nähe einer sakramentalen, vielleicht sogar ma­gischen Praxis. Nicht nur katholische, allzu menschliche Volksfrömmigkeit spie­gelte sich darin ab.

Die Gegenprobe macht es deutlicher: Sollten eines Tages keine Besucher mehr nach Oberammergau kommen, wäre dies sicher kein Grund für die Einheimischen, dem Versprechen nicht mehr nachzukommen. Das Passionsspiel-Ritual lebt von und durch seine verlässliche Wiederholung. Bereits in dieser Klarheit und Verbindlichkeit liegt ein Faszinosum, das sicher viele zum Besuch motiviert. Nur ein Ereignis höherer Ordnung, ein Exodus, blanke Not oder ähnliches könnten die Passionsspiele beenden - oder vielleicht sogar noch intensivieren.

Kultur der Beteiligung

Das zweite wesentliche Merkmal, das das Passionsspiel als Ritual kennzeichnet, ist die Kultur der Beteiligung. Nicht theatrale oder kommerzielle Kriterien entscheiden in erster Linie darüber, wie viele Mitspielerinnen und Mitspieler gebraucht werden, sondern die Beteiligung möglichst vieler Mitwirkender ist ein Wert an sich. Eine beeindruckende Anzahl von 2.500 Spielerinnen und Spielern, Sängern und Musikern, Bühnenarbeitern, Kostümbildnern, Kulissenbauern, Kartenverkäufern und anderen sind es diesmal. Ihr Einsatz für die fünfstündigen Spiele an fünf Tagen wöchentlich, über fünf Monate hin, setzt eine Bereitschaft zur Hingabe bei den Mitwirkenden voraus, die an die Aufforderung des Paulus erinnert, den Leib zum lebendigen Opfer darzubringen. Damit wird auch deutlich, dass das Ritual ein leibliches Geschehen ist: Aus am Ort versammelten Individuen wird eine große szenische Gemeinschaft, ein Ensemble, ein Großgruppenkörper mit Haut und Haar.

Kennzeichen leiblicher Veränderung ist zuallererst die Aufforderung an die Männer, sich ab Aschermittwoch 2009 nicht mehr die Haare schneiden zu lassen. Über ein Jahr im Voraus wachsen so Bärte und Haare. Diese Unterbrechung des Alltäglichen, für alle sichtbar, ist ein signifikantes Merkmal religiöser Feste. Zugleich verbinden sich die Männer mit diesem Habitus untereinander, indem sie das Gleiche, körperlich Elementare tun - oder zu lassen.

Von besonderer Brisanz ist bei der hohen Beteiligung immer wieder die Frage, wer eine herausragende Rolle übernehmen darf. Immerhin gibt es 36 Hauptrollen. Und schließlich geht es nicht um irgendwelche fiktiven Personen auf der Bühne, sondern um religiös hochgradig besetzte Rollen, die zu spielen allein schon immer eine anmaßende Seite hatte. Religiöser Überidentifikation und konditionellem Verschleiß beugen die Oberammergauer durch die doppelte Besetzung der wichtigsten Rollen vor. Selbst für den Jesus-Darsteller ist damit deutlich: Auch er ist austauschbar.

Es muss gerecht zugehen

Beteiligung wird auch auf anderer Ebene deutlich: Die Passionsspiele funktionieren auch unter den Bedingungen der Moderne als lebendiges Ritual, weil ihre Regeln im Rahmen einer demokratischen Kommunalgemeinde bestimmt werden. Über hundert Volksentscheide haben in der Vergangenheit die Weichen für die künstlerische Entwicklung der Oberammergauer Passionsspiele ge­stellt, zuletzt ein Volksentscheid über den Zeitpunkt der Spiele. Kultus und Ethos sind hier untrennbar und eng miteinander verbunden. Die Gemeinschaft legt Wert darauf, dass es gerecht zugeht. Der von den Bürgerinnen und Bürgern gewählte Gemeinderat bestimmt durch Abstimmung hinter verschlossenen Türen den Spielleiter und hat sich mit ihm auseinanderzusetzen.

Wohlgemerkt: Es ist kein Beirat oder Fachgremium, kein Intendant oder Großsponsor oder gar die katholische Kirche, der oder die hier die wesentlichen personellen Entscheidungen trifft, sondern jenes Gremium, das sonst über Infrastrukturausbau und Schulwesen in Oberammergau beschließt. Alle diskutieren ästhe­tische Entscheidungen mit. Der Ritus zeigt sich einmal mehr als integraler Teil des Lebens, mitten in Europa allen gesellschaftlichen Fragmentarisierungsthe­sen zum Trotz.

Zweifelsohne hat der Spielleiter für die Auswahl der Besetzung wie für die gesamte Inszenierung eine herausragende Funktion. Er ist der Zeremonienmeister. Dass er der Gemeinschaft entstammt, ist Voraussetzung. Doch seine Autorität gründet sich auch auf profunde Kenntnis der inneren Regeln sowie auf die Fähigkeit zur Reflexion und Kommunikation. Selbstverständlich muss er in der Lage sein, innere Bilder und Intuitionen an die große Gruppe der Beteiligten zu vermitteln. Er braucht den Blick für die einzelne Person und szenisches Geschick bei der Umsetzung der biblischen Darstellung. Wichtig sind eine Portion Mut, Überzeugungskraft und eine Vision, denn er muss etwas wagen, damit das Evangelium lebendig und das Ritual gegenwärtig bleibt.

Schon als Kind dabei

Christian Stückl, seit 1990 dreimaliger Spielleiter, ist in dieser Hinsicht eine außergewöhnliche Besetzung. Als Sohn des Wirtes und mehrfachen Hauptrollendarstellers Peter Stückl hat er schon als Kind bei den Passionsspielen herumgelungert oder gar mitgespielt. In diesem Jahr hat es Stückl geschafft, das Stück in den Nachmittag und Abend zu verlegen und auf diese Weise die zeremoniellen Absichten vor die merkantilen zu stellen. Also im Prinzip den Indikativ und den Aktiv jesuanischer Verkündigung auch praktisch wirksam werden zu lassen, gegen den Widerstand der meisten Wirte.

Lange trugen die Passionsspiele das Image eines klischeereichen Laientheaters. Doch Stückls intensives Lernen am Theater hat ihm dabei geholfen, Spielerinnen und Spieler in ihren Rollen lebendig werden zu lassen. Im Gespräch mit Jüdinnen und Juden in Israel, den usa und in Deutschland haben er und sein Dramaturg Otto Huber gelernt, vor al­lem die hebräische Lebenswelt Jesu sichtbar zu machen, seine Gestalt aus der reinen Passivität eines Opferlamms herausgeholt und in die Aktivität eines Gottesreich-Predigers gebracht. Heute beginnt die Passion mit der Bergpredigt Jesu. Es wird auch hebräisch auf der Bühne gesprochen, mit bayrischem Akzent. Und der so genannte "Blutschwur" "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" (Matthäus 27,25) kommt seit 2000 nicht mehr zur Sprache. Er war und ist Anlass unzähliger Diskriminierungen der Juden.

Lebendige Rituale schaffen Möglichkeiten zur Erneuerung, zur Reformation. Dabei interessiert nicht der radikale Neuanfang, die Erfindung des gänzlich anderen, sondern die "Veränderung im Hinblick auf die Beibehaltung", wie Bertolt Brecht einmal für das epische Theater formuliert hat. Diesen Impuls beherrschen Christian Stückl und Otto Huber spielend. So sind sie auch anhaltender Kritik im Ort ausgesetzt, die die Dominanz der Veränderung gegenüber der Beibehaltung bemängelt. Es ist vielleicht die Chance szenisch-theatralisch geprägter Rituale, Spielräume der Vitalität einfacher entfalten zu können als in geprägter Liturgie.

Zeugen

Es ist auch kein Wunder, dass das Passionsspiel schon bald aus dem Kirchenraum beziehungsweise dem Friedhof auf einen freien Platz ausgewandert ist. Das Ritual Oberammergauer Passionsspiel bleibt auf diese Weise zeitgenössisch und durchlässig für seine globalisierte Umwelt und hält dennoch an seinen Wurzeln fest. Hätten allerdings 1970 nicht amerikanische Juden zum Boykott der Oberammergauer Passionsspiele aufgerufen, wäre das Spiel nicht dort, wo es heute ist. Kult und Kultkritik bilden immer auch einen Zusammenhang.

Wie es weitergeht mit dem Passionsspiel, wie viele Zeugen ihm in Zukunft beiwohnen werden, bleibt offen. Dass es weitergeht, scheint außer Frage, ebenso dass es lebendig bleibt.

Deshalb gibt es bis heute keine offiziellen Filmaufnahmen der Spiele. Stattdessen sind Menschen ganz anwesend, eher als Zeugen denn als Zuschauer.

Marcus Friedrich

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