Haus Hoffnung

In Simferopol haben ehemalige Zwangsarbeiterinnen der Nazis einen Verein gegründet
Auf der Krim (heute Ukraine) kämpfen ehe­malige Zwangsarbeiterinnen des deutschen Nazi-Regimes und deren Angehörige gegen das Vergessen und für etwas Würde im Alter.

"Guten Morgen, meine Lieben!" Ma­ria Frolowa ist erschienen. Wie eine frische Sommerbrise weht die zierliche Frau durch den Raum, klein, behände, mit blau-weiß gemusterter Jerseybluse und kupferfarbenen Locken. Die alte Dame zwitschert Worte der Begrüßung, herzt und küsst die Freundinnen, stellt einen Strauß Blumen ins Glas, nimmt den hellen Strohhut ab und legt ihn auf ihren Schreibtisch. "Wie schön, euch alle zu sehen!"

Vor ihr sitzen Vera, Xenia, Raisa, Margarita und Valentina - lauter Frauen Ende sechzig und aufwärts. Sie sind Überlebende des Naziterrors, der auch die Menschen in der Ukraine erfasst hatte. Zwischen Mai 1942 und Oktober 1943 wurden allein von der Krim etwa 42.000 so genannte "Ostarbeiter" nach Deutschland deportiert. Und zehntausende mussten wie Sklaven auf den Tabakplantagen und in der Landwirtschaft der Schwarzmeer-Halbinsel schuften.

Ein möglichst normales Leben

Maria Frolowa und ihre Gefährtinnen haben den Wahnsinn überlebt, sie kehrten zurück in die Heimat und versuchten, ein möglichst normales Leben aufzubauen. Erst ein halbes Jahrhundert nach Ende des Krieges fanden sie sich zusammen und gründeten einen Verein, um ihr gemeinsames Schicksal aufzuarbeiten, die Gräueltaten an die Öffentlichkeit zu bringen und sich gegenseitig zu helfen. Maria Frolowa, Jahrgang 1922, ist die Vorsitzende und die Seele des Vereins.

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Der Beleg über die

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Maria Frolowa, 88, Mitbegründerin des Vereins ehemaliger NS-Zwangsarbeiterinnen in Simferopol.

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Ljudmilla Ryschowa und Fahrer Nasim Narsikulow vor dem Haus der Kostyljews.

Es ist Dienstagvormittag, einer der beiden Wochentage, an denen das "Haus Hoffnung" in Simferopol seine Türen geöffnet hat. Die Ehrenamtliche Swetlana Gassan hat bereits bei einigen Seniorinnen den Blutdruck gemessen, Irina Simse und Vera Iljina kontrollieren die Buchhaltung, und in der Abstellkammer sitzt Ljudmila Ryschowa am Computer und bearbeitet die Anträge für Fördergelder aus Deutschland. Unten in der Küche klappert Geschirr.

Manchmal kommen zwanzig bis dreißig "Babuschkas" vorbei, lauter betagte Frauen mit faltigen Gesichtern, gebeugten Rücken und oftmals schwerem Gang. Manche tragen Kopftücher, einige gehen an Stöcken, viele färben die Haare und schminken die Lippen. Alle freuen sich auf das Wiedersehen, die Gespräche, das Miteinander. Männer sind auch manchmal dabei, aber da ehemalige Zwangsarbeiterinnen des Frauen-KZ Ravensbrück 1998 den Verein gegründet haben, hat es in der "Simferopoler Städtischen Organisation der invaliden KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter" schon immer ei­nen Frauenüberhang gegeben. Außerdem haben Frauen auch auf der Krim eine höhere Lebenserwartung als Männer.

Die 88-jährige Maria Frolowa hat den Verein mitbegründet, seit vier Jahren sitzt sie ihm vor. "1998 bekam ich unverhofft einen Brief vom Fürstenberger Förderverein der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück", erzählt sie. Maria Frolowa nahm die Einladung zum 53. Tag der Befreiung des KZ an und kehrte erstmalig an den Ort des Grauens zurück. "Es war gruselig", sagt sie und betont jedes Wort. Wenn Maria Frolowa über ihre ungeheuerliche Vergangenheit spricht, sitzt sie ganz aufrecht, die dunkelblauen Augen blitzen wach aus den tiefen Falten des Gesichts hervor. Ihre Geschichte steht stellvertretend für alle 176 aktuellen Vereinsmitglieder und rund 15.000 noch heute auf der Krim lebenden NS-Opfer.

Als Vaterlandsverräterin verschrien

Als junges Mädchen wurde Maria 1942 von den deutschen Besatzern nach Frankfurt am Main verschleppt. Sie wurde zur Zwangsarbeit genötigt, misshandelt, erniedrigt. Der Widerstandswille der zwanzigjährigen Kunststudentin und Fallschirmspringerin blieb jedoch ungebrochen. Sie verweigerte die Arbeit, kam in Gestapo-Haft und schließlich ins Konzentrationslager Ravensbrück. Dort erlitt sie Folter, Hunger, Todesangst. Nach der Befreiung durch die Rote Armee ging sie zurück in die Heimat, heiratete, arbeitete und schwieg. Unter Stalin und darüber hinaus waren die Zwangsarbeiter als Kollaborateure und Vaterlandsverräter verschrien. Die Frauen unter ihnen galten als "Nazihuren" und "Schweine".

Der Brief aus Fürstenberg läutete für Maria Frolowa und ihre Leidensgenossinnen eine Phase der Hoffnung ein. "Zum ersten Mal konnten wir offen über unser Schicksal reden", sagt sie. Damals entstand der Vorsatz, alle ehemaligen Häftlinge auf der Krim zusammenzubringen. Gemeinsam mit einer Weggefährtin startete Maria Frolowa einen Aufruf in der lokalen Zeitung. "Innerhalb kürzester Zeit kamen 58 ehemalige KZ-Häftlinge aus Ravensbrück zusammen", berichtet sie. Auch andere NS-Opfer von der ganzen Krim meldeten sich. So entstand der Verein mit mehr als 230 verstreut lebenden Mitgliedern. Acht Jahre später erwarben die Simferopoler mit Hilfe deutscher Spendengelder ein kleines Haus plus Grundstück in zentraler Lage der Hauptstadt. "Unser Häuschen ist das Herz des Vereins", sagt die Vorsitzende. "Es ist unser zweites Zuhause."

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Ausflug zur Ortsgruppe Sewastopol.

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Besuch bei Alexandra Timoschenko.

Von unten ertönt ein durchdringender Lockruf: "Der Tisch ist gedeckt!" Fröhlich steigt ein Dutzend alter Frauen die steile Treppe hinab in die Küche und setzt sich dicht an dicht auf Schemel und Hocker. Vera Iljina, die feuerrot gefärbte Endsechzigerin, die als Kleinkind das Vernichtungslager "Sowchos Krasnij" auf der Krim überlebt hatte, redet mit Margarita Schitikowa über die aktuelle Gartensaison. Margarita ist nur vier Jahre älter als Vera, aber mit dem Kopftuch über den grauen Strähnen und der Kittelschürze scheint sie aus einer anderen Generation zu stammen.

Jede der Frauen hat eine Kleinigkeit mitgebracht, Butterbrote und Kekse werden gereicht, Teller mit Käse, Wurst, frischem Gemüse und Eingekochtem stehen bereit. Der Tee dampft, die Frauen reden und lachen, selbstgebrannter Wodka hebt zusätzlich die Stimmung. "Auf das Leben und unsere Mädchen", prostet Maria Frolowa zu. "Auf dass sie uns niemals verlassen oder mit einem Mann durchbrennen!"

Ein zweites Zuhause

"Die Mädchen" lächeln gedämpft. Tapfer heben Ljudmila Ryschowa und Swetlana Gassan die Gläser. Die alten Leute wollen nicht wahrhaben, dass ihre ehrenamtlichen Seelen überfordert sind. Die liebevoll umgarnten "Mädchen" sind zwischen 52 und 59 Jahren alt. Sie sind verheiratet, verlassen, geschieden oder verwitwet, haben Kinder und Enkel, und jede leidet an einer schweren Krankheit. Swetlana, mit 58 schon seit drei Jahren in Rente, hat ernsthafte Probleme mit den Bronchien und hustet wie eine Kettenraucherin. Ljudmila, 52, ha­ben die Ärzte vor kurzem einen bösartigen Tumor aus der Brust entfernt. Eigentlich bräuchte sie eine Chemotherapie, aber die kann sie sich nicht leisten. Ihr Mann hat fluchtartig das Haus verlassen, als er von der Diagnose erfuhr. Nun sitzt sie mit ihrer schwangeren Tochter und dem Schwiegersohn in einer sozialistischen Zweiraumwohnung und hofft auf ein Wunder.

Tatjana Romanenko, die Dritte im Bunde, 59, verwitwet, eine Tochter und drei Enkel, hat ihren Krebs erfolgreich bekämpft. Tagsüber hält die Bauingenieurin und Architektin an der Universität Vorlesungen und betreut -zig Diplomanden. Am Abend und an den Wochenenden knüpft sie Netzwerke für den Verein und sucht Fördergelder im In- und Ausland. Tatjana ist der politische Kopf, Ljudmila kümmert sich um Büro und tägliches Allerlei, Swetlana macht Hausbesuche und leistet die Arbeit einer Altenpflegerin. Alle drei sorgen für ihre "Babuschkas". Sie lauschen den alten Geschichten, hören sich geduldig die neuen Probleme und Nöte an, spenden Trost und sprechen Mut zu.

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Zu Besuch im Bezirk Bachtschisaraj - Swetlana Gassan mit Valentina Klitschko im Dorf Potschtowoje.

"Es ist einfach alles sehr anstrengend", sagt Ljudmila zwei Stunden später. Erschöpft sitzt die große, schlanke Frau im Gemeinschaftsraum. Die alten Damen sind längst nach Hause gegangen und halten Mittagsschlaf. Ljudmila und Swetlana bereiten den morgigen Tag vor. Sie haben Geld aus Deutschland erhalten und können damit Benzin für den Vereinsbus kaufen, den Fahrer bezahlen und somit Kleiderspenden und Lebensmittelpakete auf dem Land verteilen.

"Wir können unsere Babuschkas nicht alleine lassen", sagt Ljudmila und seufzt. Ihre Mütter waren welche von ihnen, bis sie vor fünf Jahren in kurzem Abstand voneinander starben. Tatjana hat den Verein mit aufgebaut. Sie und Swetlana kennen sich von klein auf, weil ihre Mütter sich im KZ Ravensbrück angefreundet hatten. Die Überlebenden blieben sich in der Heimat treu, ihre Töchter wuchsen gemeinsam auf. In den Familien sprachen sie offen über ihr Schicksal. "Bei uns war das immer The­ma", erinnert sich Swetlana. Außerhalb der eigenen vier Wände herrschte jedoch absolutes Redeverbot.

Ein großes Tabu in der Gesellschaft

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kämpften die Töchter mit ihren Müttern um Rehabilitierung, aber in der jungen Ukraine wurden sie weiterhin diskriminiert. Erst mit den Entschädigungszahlungen aus Deutschland Ende der Neunzigerjahre und der Vereinsgründung ging es etwas bergauf. Die Vereinsmitglieder sterben jedoch weg. Die Überlebenden um Ma­ria Frolowa kämpfen gegen das Vergessen und für eine späte Anerkennung in der Gesellschaft, indem sie so oft wie möglich als Zeitzeugen in Schulen und in der Öffentlichkeit auftreten.

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Ljudmilla Ryschowa und Swetlana Gassan bei Valentina Klitschko, Potschtowoje.

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Ljudmila Ryschowa, Swetlana Gassan ("die Mädchen") und Übersetzerin Irina Mamajewa im Bekleidungs- und Materiallager des Vereins.

Der Staat will nichts von den alten Leuten wissen, die Nachbarn drehen sich weg, und die meisten Nachfahren sind mit sich selbst und der allgegenwärtigen Krise beschäftigt. Die Durchschnittsrente von umgerechnet 60 Euro reicht hinten und vorne nicht, und schon gar nicht für Medikamente, Arztbesuche, Physiotherapie oder Operationen. "Auf die Reichen unseres Landes brauchen wir nicht zu hoffen", meint Ljudmila, die für ihre 40- bis 60-Stunden-Woche als einzige eine geringe Aufwandsentschädigung von der deutschen "Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" erhält.

Am nächsten Morgen sortieren Ljudmila und Swetlana im Lagerraum der Garage Hilfslieferungen aus dem Westen. Gehwagen und Blutdruckgeräte sind alle verteilt, vor einigen Monaten konnten sie Olga Schtscheglowa endlich ein Krankenbett bringen. Die 74-Jährige war nach einem Schlaganfall gelähmt, aber durch die Fürsorge und behutsame Krankengymnastik Swetlanas kann sie mittlerweile wieder an Krücken gehen.

Gespräche sind das Wichtigste

Heute wollen die beiden Frauen in die Dörfer Bachtschisaraj und Potschowoje fahren, rund 40 Kilometer südwestlich von Simferopol. Sie packen Kleider, Röcke und Herrenhosen ein, Bettwäsche, Handtücher und Schuhe. In den Lebensmittelpaketen ist das Notwendigste wie Mehl, Öl, Konserven. Swetlana hat das Blutdruckmessgerät dabei. Für die fünf Stationen werden sie fast den ganzen Tag benötigen. "Die Gespräche sind das Wichtigste", weiß Swetlana. Mit ihrer Leibesfülle, dem herzhaften Lachen und den dunklen Haaren ist sie der Gegenpol zur ruhigen Ljudmila. Zusammen mit der Strategin Tatjana sind sie ein unschlagbares Team - solange ihre Kräfte sie nicht verlassen.

"Die Vereinsarbeit ist Freude und Last zugleich", meint Ljudmila am späten Nachmittag auf dem Weg zur Bestrahlung. Ihre Brust schmerzt, aber die alten Damen kann und will sie nicht enttäuschen. Manchmal springt ihre Tochter ein. Das Baby kann sie später ja mitnehmen. Die "Babuschkas" freuen sich über jedes junge Gesicht. Es gibt ihnen die Gewissheit: Ihre Geschichte gerät nicht in Vergessenheit.

Text: Constanze Bandowski/ Fotos: Karin Desmarowitz

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