Musik mit Narben

Klezmer: Jiddische Musik von 1953 bis 2009
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Gefühlsbetontes Jammern und Beugen der Töne, das auch an Synagogengesang erinnert: Um so schöner, dass das bis hinein in heutige DJ-Kultur und tanzselige Weltmusikparties reicht.

"Klezmer ist Freude und Trauer in einem und berührt mich auf eine Art und Weise, wie es keine andere Musik vermag", brachte es einst der Komponist Dimitrij Schostakowitsch auf den Punkt. Seine Beliebtheit erklärt es am ehesten, auch in Deutschland, wo die Rezeption nach der Shoah lange vom schlechtem Gewissen geprägt war - wo­zu auch die oft diskutierte Frage gehörte, ob auch Nichtjuden jüdische Musik spielen dürfen.

Einen faszinierenden, in dem Umfang einmaligen Überblick über Klezmer in Deutschland gibt nun die üppige, mit informativen Beiheften versehene CD-Kompilation Sol Sajn: Jiddische Musik von 1953 bis 2009, und das, obwohl die Herausgeber mehrfach betonen, keinen An­spruch auf Vollständigkeit zu haben. Die zwölf CDs dokumentieren mit über 240 Einzelaufnahmen, wie die jiddische Musik von ihrer Entdeckung und Pflege durch die Folkbewegung in den Sechzigerjahren, über den Einfluss des US-Klezmer-Revivals mit zahlreichen Bands, die auch zu Auftritten nach Deutschland kamen, und den Einfluss, den Klezmer-Klarinettist Giora Feidman hatte, bis zu der heutigen bunten Stilvielfalt und Verbreitung wieder aufblühte.

Bunte Stilvielfalt

Vertreten sind Interpreten, die in Deutschland seit den Fünfzigern auf Tonträgern und live zu erleben waren, deutsche und europäische ebenso wie die einflussreichen US-Bands, deren Entwicklung ihrerseits von Erlebnissen mit den engagierten deutschen Hörern stark geprägt wurden. Vitalität, die erfreut.

Besonders spannend sind die drei letzten CDs mit den jüngsten Klezmer-Entwicklungen. Das reicht von sehr jazzigen, bis an Free Jazz heranreichenden, künstlerisch hochwertigen (und nicht un­mittelbar eingängigen) Anverwandlungen etwa in Aufnahmen aus New Yorks Knitting Factory bis zum Balkan-Beat-Style und Rap-Versionen.

So schließt sich ein einst fatal und für immer unterbrochen scheinender Kreis, der mit jenen Kapelyes Mittel- und Osteuropas begann, die bei Feiern (von der Beerdigung bis zur Hochzeit) und religiösen Festen spielten, umherzogen und dabei seit dem Mittelalter zahlreiche Musiktraditionen aufsogen - ob Musik der Sinti und Roma, Polka oder entfernt gar den Rembátika der Griechen. Stets getaucht in gefühlsbetontes Jammern und Beugen der Töne, das auch an Synagogengesang erinnert. Um so schöner, dass deren Wanderschaft bis hinein in heutige DJ-Kultur und tanzselige Weltmusikparties reicht.

Sol Sajn - Jiddische Musik (1953–2009). Bear Family/2010) - vier CD-Boxen mit je drei CDs sowie Beiheften.

Udo Feist

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