Kohelet-Experiment

Das Ätzen der Sinnfrage
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Hier ätzt die Sinnfrage unverdünnt bis zur letzten Seite. Dabei fängt die wunderbare, dicht, mitunter lakonisch aus der Ich-Perspektive eines Mädchens im Rückblick erzählte Parabel nahezu harmlos an.

Man kann an der Bibel literarisch vieles schätzen, genießen, loben. Faszinierend an dem Doppelkanon, dessen Inhalt erst über lange Zeiträume hinweg festgelegt wurde, ist aber auch, welch unterschiedliche Bücher er enthält. Kohelet, der Prediger Salomo, mit seinem "Alles ist eitel", sprich: sinnlos!, ist zweifellos ein Extrem, da er puren Nihilismus predigt: "Das Vieh fährt in die Grube wie der Gerechte, wo ist der Unterschied?" In den Kanon kam er nur, weil der biblische König als Verfasser galt.

Janne Tellers Jugendbuch Nichts hätte es da schwerer gehabt, nicht nur, weil die 46-jährige Dänin eine Frau ist. Denn dem Prediger nehmen Gottesfurcht lehrende Zusätze ein wenig Schärfe. Das ist bei Nichts ganz anders, hier ätzt die Sinnfrage unverdünnt bis zur letzten Seite. Dabei fängt die wunderbare, dicht, mitunter lakonisch aus der Ich-Perspektive eines Mädchens im Rückblick erzählte Parabel nahezu harmlos an.

"Nichts bedeutet irgendetwas"

Pierre Anthon ist wie die anderen Protagonisten um die vierzehn Jahre alt und besucht mit ihnen die Klasse 7A im Vorort einer dänischen Provinzstadt. Der Unterricht im neuen Schuljahr beginnt gerade, als der Junge mit trockenem Auftritt jene Sinnlawine auslöst, die sie alle und alles vorgeblich Gewisse mitreißen wird: "Da stand Pierre Anthon auf. 'Nichts bedeutet irgendetwas', sagte er. 'Das weiß ich schon lange. Deshalb lohnt es sich nicht, irgendetwas zu tun. Das habe ich gerade herausgefunden.'"

Sprach's, packt seine Sachen und verlässt für immer die Schule. "Die Tür lächelte", notiert die Erzählerin und fokussiert exakt, warum und wie sie alle den Impuls verspüren, ihm zu folgen. Und auch als Leser ist man geneigt, ihm irgendwie Recht zu geben: Vierzehn ist eben doch ein ebenso radikal wahrhaftiges wie undiplomatisches Alter.

Der Abgängige jedenfalls beginnt auf dem Pflaumenbaum vor dem elterlichen Haus sofort, sich mit der finalen Nichtbedeutung des Lebens abzufinden. Weitere Gedanken dazu gibt er vom Baum aus den anderen an jedem Morgen auf deren Weg zur Schule mit. Die wachsen sich zu derart bohrendem Stachel in der bislang geglaubten Notwendigkeit etwas zu werden aus, dass sie sich, nachdem Steinwürfe in den Baum nur vorübergehend halfen, zu einem großen Projekt entschließen: Mit einem "Berg von Bedeutung" wollen sie Pierre Anthon wieder auf Linie, sprich zurück in die Klasse holen.

Berg von Bedeutung

Konspirativ verabreden sie sich dazu im stillgelegten Sägewerk, wo jeder etwas zu deponieren hat, was für ihn von größter Wichtigkeit ist, um zu belegen, dass es eben doch etwas Bedeutendes gibt. Was bei grünen, lange erquengelten Lieblingssandalen beginnt, drängt aber allzu schnell in bedrohlichere Gewässer, da nur echte Opfer akzeptiert werden. Und weil, wer soeben abgeliefert hat, das des Nächsten bestimmen darf, nehmen auch echte Verhängnisse ihren Lauf. Eine Adoptionsurkunde ist da bloß lässliche Gabe.

Teller erzählt packend, unprätentiös und oft überraschend, die Charaktere sind mit wenigen Strichen sehr präzis gezeichnet. Im unterhaltsamen Ernst des Abenteuers gemahnt Nichts an Huck Finn und Tom Sawyer, die Dynamik an Goldings Klassiker Der Herr der Fliegen, der Ton an Büchners Antimärchen im Woyzeck: „Und wie es endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz.“ Denn als Eltern und Polizei endlich eingreifen, beginnt das eigentliche Drama um den "Berg von Bedeutung" erst, Ankaufangebote des New Yorker Museums for Modern Art inklusive.

Eindringlich, entlarvend, intensiv. Antworten bleibt Nichts schuldig, die Frage hingegen ist schneidend scharf gestellt, da von allergrößter Bedeutung. Anregung pur, Gesprächsstoff ohne Ende. Es ist ein echtes literarisches Ereignis, dass das Buch zehn Jahre nach Erscheinen des Originals nun auch auf Deutsch vorliegt.

Janne Teller: Nichts. Was im Leben wichtig ist. Aus dem Dänischen von Sigrid C. Engeler. Carl Hanser Verlag, München 2010, 140 Seiten, Euro 12,90.

Udo Feist

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