"Das Reich Gottes ist in Euch"

Vor hundert Jahren starb der russische Dichter Leo Tolstoi
Leonid Ossipowitsch Pasternak: Portrait von Leo Tolstoi (1901). (akg/Erich Lessing)
Leonid Ossipowitsch Pasternak: Portrait von Leo Tolstoi (1901). (akg/Erich Lessing)
Die Bergpredigt war für ihn das Richtmaß der persönlichen Vervoll­kommnung. Er verstand das Evan­gelium als Lebenspraxis, weniger als Garant der Erlösung und erst recht nicht als Katechismus.

Vieles ist über Leo Nikolajewitsch Tolstois spirituelle Wandlung von ihm selbst und von Zeitzeugen bekannt gemacht worden. Man weiß über die Seelenkämpfe gut Bescheid, zumal er seine persönliche Entwicklung immer literarisch fruchtbar gemacht hat.

Nach Jahren als junger Offizier im Krim-Krieg, als Bildungsreisender, Pädagoge und Autor vielbeachteter Romane wie Krieg und Frieden oder Anna Karenina erlebte er seine ganz eigene Midlife Crisis. Der Traktat "Die Beichte" war das literarische Zeugnis dieser schweren Zeit. Angewidert vom Materialismus und dem blinden Fortschrittsglauben Europas drohte er am Leben zu verzweifeln. Tolstoi zeigte sich von Rousseaus Ideen beeinflusst, wenn er das überhebliche Zivilisationsgebaren nicht nur der Mächtigen gegen ein naturverbundenes Dasein ausspielte. Der Sittenverfall, der auch in die Lebensweise der redlichen Bauern einsickerte und von der Oberschicht vorgelebt wurde, entfachte seinen gerechten Zorn.

Zorn entfacht

Die letzte große Entscheidungskrise ist dann sehr genau mit allem Für und Wider in dem späten, vieraktigen Drama Und das Licht scheinet in der Finsternis zur Darstellung gekommen. "Es geht eben bei einer Geburt nicht ohne Wehen ab, das gilt auch vom geistigen Leben", schrieb er in diesem Stück, das sein Vermächtnis wurde. Obwohl Tolstoi einen fünften Aufzug plante und schon skizziert hatte, wirkt die Arbeit in sich geschlossen. Sie stellt den Zuschauer nun selbst vor die Frage, ob er mit den Bedürftigen teilen und ohne Besitzansprüche in einer Sozialgemeinschaft leben könnte, in der alle in Nächstenliebe aufeinander angewiesen sind. Tolstoi praktizierte die Rückkehr zum urchristlichen Ideal auf seine Weise, indem er die Rechte an seinem Gesamtwerk und da­mit dessen Ertrag testamentarisch dem russischen Volk überließ.

Trotz aller Selbstbekenntnisse und Enthüllungen kann man nur vermuten, wie sehr die Gedanken und Gefühle mit ihm Karussell gefahren sind. Was für seine Umwelt wie Heuchelei aussah - er predigte Enthaltung und lebte dennoch seinen regen Sexualtrieb aus -, dürfte sich in seinem Inneren als qualvolle Selbstgeißelung abgespielt haben. Literarisch gab er seinem Ideal den Vorzug: In der berühmten Kreutzersonate stellt der Möchtegern-Asket die Agape über den Eros, und in der Erzählung Vater Sergej sind die Anfechtungen des Titelhelden nichts anderes als Tolstois eigene Probleme mit der Lust, die er nur durch aufopferungsvolle Hinwendung zum Nächsten überwindet.

Tolstoi war ein fehlbarer Mensch und kein Heiliger. Das wusste er selbst am besten. Jesu Forderungen zu befolgen, war für den hochangesehenen Schriftsteller, Grafen und Grundbesitzer kein Dogmatismus, sondern ethische Konsequenz seines Glaubens. Ihn trieb die Sorge um, er könne dem Anspruch der Bergpredigt nicht genügen, und er manövrierte sich in eine familiäre Zwickmühle. Der weißbärtige Patriarch rang mit Gott, mit sich und seiner langjährigen Ehefrau So­fia Andrejewna, die für seinen Wunsch, so arm wie ein Bettler zu sein, wenig Verständnis aufbrachte. Sie fürchtete, er könne die ganze Familie an den Bettelstab bringen. Für viele schien die Welt doch mit Herren und Knechten gut eingerichtet zu sein, und jeder sollte nach dem Willen Gottes seine Verantwortung an dem Platz übernehmen, an den er gestellt war.

Familiäre Zwickmühle

Tolstoi verfasste leidenschaftliche Traktate zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitskultur. "Sozialethik" hieß das große Anliegen. Obwohl die Leibeigenschaft in Russland seit 1861 aufgehoben war, hatte sich die Lage der Bauern faktisch nicht verändert. Der weltberühmte Literat klagte die Ausbeutung und soziale Ungerechtigkeit auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens an: Von der Arbeit anderer zu leben, war ihm ein Gräuel. Diese Einstellung stürzte den Gutsbesitzer Tolstoi, der kein Schmarotzer sein wollte, in die tiefste Gewissenskrise. Er wehrte sich dagegen, dass die Bauern kaum Rechte hatten und in Unwissenheit gehalten wurden.

Nicht nur dem Staat, auch der orthodoxen Kirche warf er diese Strategien der Unterdrückung vor. Als er gleichzeitig seine Kritik an den kirchlichen Dogmen immer deutlicher äußerte, reagierte der Klerus mit Exkommunikation.

Die Bergpredigt war für Tolstoi das Richtmaß der persönlichen Vervollkommnung. Er verstand das Evangelium als Lebenspraxis, weniger als Garant der Erlösung und erst recht nicht als Katechismus. Es zeigte ihm, wie er seinem Nächsten begegnen sollte. Tolstoi muss fast fanatisch auf ein Leben nach dem Evangelium gepocht haben. Dabei war ihm früher die Religion gleichgültig gewesen, bevor er sich der Kirche angenähert und sie schließlich in der Konfrontation mit ihren eigenen Wurzeln angeklagt hatte.

Zeitweise sah er sich sogar als Religionsgründer, der im Geiste Jesu zur Erneuerung des Landes durch den Glauben schreiten wollte. Vom Fundamentalismus trennte ihn nur die Toleranz. Tolstoi mischte sich quasi individualistisch in die Politik ein und versuchte Russland zu sozialisieren, obwohl er kein Sozialist war. Vertretern der Macht traute er nicht über den Weg - nicht einmal dann, wenn sie vorgaben, sich für die Arbeiterschaft einzusetzen.

Utopist, der Gefahr lief, die Realität aus dem Blick zu verlieren

Nicht nur in Romanen mit lebendig beschriebenen Personen und Milieus bewies er seine Menschenkenntnis. Wirkt er einerseits noch heute wie ein Utopist, der immer wieder Gefahr lief, die Realität im Strudel seiner revolutionären Ideen aus dem Blick zu verlieren, erscheint er andererseits doch als wa­che, gefestigte Persönlichkeit, die stärker dem Rationalismus als der Mystik zusprach. Trotz aller Sehnsucht, ein Leben in mönchischer Askese auf Wanderschaft führen zu können, wollte er ein Mann der Tat sein. Seine Abkehr vom Besitztum bedeutete keine Weltflucht.

Wie die Fleischeslust war auch der Glaube an ein gottgerechtes Leben sein Dämon, mit dem er unablässig kämpfte - dies allemal aus der Sicht seiner Ehefrau Sofia Andrejewna, die kein schlechter Mensch war und das Opfer seiner unseligen Leidenschaften wurde. Seine Qual hing mit ihrer Not aufs engste zusammen. Leo Nikolajewitsch, den sie vor vielen Jahren geheiratet hatte, kam ihr nun oft wie ein völlig Fremder vor. Seine unerbittliche Haltung schreckte sie ab. Sie hielt ihn für hochmütig und verspottete seine Nächstenliebe, die er für alle Welt übrig hatte, nur nicht für sie. Tolstoi wollte von ihr verstanden werden, bewegte sich aber selbst kaum auf sie zu. Im Gegenzug mauerte auch sie und wehrte sich wie ein verwundetes Tier.

Die so genannten "Tolstoianer", die zu ihm nach Jasnaja Poljana pilgerten, wo er am 9. September 1828 geboren worden war, schienen seine Forderungen nach lebendiger Nächstenliebe zu bestätigen. Auch geriet er unter den Einfluss besonders schmeichelhafter Zungen. Gleichwohl war Tolstoi für Revolutionen nicht zu gewinnen. "Das Reich Gottes ist in euch", predigte er. Anders als in seiner Jugend hätte er nun den Militärdienst verweigert. Er verabscheute jede Gewalt und praktizierte passiven Widerstand. Eine gesellschaftliche Veränderung war für ihn nur durch Läuterung des je Einzelnen "um Christi willen", also im Leben nach dem Evangelium möglich. Die stürmische Jugend verstand ihn nicht, suchte vielmehr den bedingungslosen, 1905 dann gescheiterten Umsturz.

Der Tod als ungelöstes Rätsel

Der Patriarch verurteilte die Gewalt der Machthaber und die soziale Ungerechtigkeit, betrachtete aber auch Potentaten als seine Nächsten. Bevor er die Waffen gegen sie erhob, wollte er lieber mit den Geknechteten leiden, wie Christus selbst gelitten hatte.

Andersdenkende hielten dagegen und meinten, dass tätiger Widerstand nötig sein könne, um noch größeres Elend zu verhindern. Wer nur die andere Wange hinhalte, bekräftige die Herrschaft der Gewalttätigen.

Leiden konnte auch den Tod bedeuten, der für Tolstoi ein ungelöstes Rätsel blieb. Toleranz, Opferbereitschaft und die Literatur halfen ihm, den Gedanken daran zu ertragen. In der 1895 erschienenen Erzählung Herr und Knecht überwindet ein nur am Reichtum interessierter Kaufmann die eigene Todesfurcht, in­dem er seinen frommen Knecht vor dem Erfrieren rettet und dadurch zur Nächstenliebe findet.

Den Höhepunkt der fast zwanghaften Auseinandersetzung mit dem Sterben bildete die eindringliche Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch, in der ein Sterbender wie durch einen göttlichen Gnadenakt die Angst vor dem Tod verliert. Tolstoi brauchte die Religion, um angesichts der Endlichkeit weiterleben zu können. Aber er war zugleich Skeptiker. Auferstehung lautet der Titel seines berühmten Romans über eine wegen Mordes verurteilte Prostituierte und einen jungen Fürsten, der sich an ihrem Schicksal schuldig fühlt. Das Aufsteigen beider aus der Seelengruft hat nichts Mirakulöses an sich. Wundergeschichten gehörten für den Dichter zum Mythos.

Die Ehefrau verlassen

An die Rückkehr eines Toten ins irdische Leben glaubte er nicht, wohl aber an die Umkehr des Menschen, der nicht länger falschen Götzen nachläuft und der Stimme des Gewissens folgt, in der sich für Tolstoi Gott offenbarte. "Nicht an das soll man glauben, was andre einem sagen, sondern an das, was das eigene Denken, die eigene Vernunft einen glauben lehrt ... Das ist der rechte Glaube an Gott, an das wahre ewige Leben", meint Tolstois Alter Ego in "Und das Licht scheinet in der Finsternis".

Nach schier endlosen Jahren der Auseinandersetzung machte der Dichter ernst: Um Jesu willen verließ er seine Ehefrau Sofia Andrejewna, wofür er im Kreis der Familie nicht bloß Widerspruch erntete. Tochter Alexandra stand längst auf seiner Seite. Nachdem die Gräfin Sofia den Abschiedsbrief ihres Mannes gelesen hatte, wollte sie sich umbringen, wurde aber gerettet. Tolstoi stiftete in der Familie nicht Frieden, er warf Feuer auf die Erde. Er spürte, wie schwer es ihm wurde, ein Christusjünger zu sein, wenn man ohne Ausflüchte die Nachfolge Jesu antreten will und nicht bloß mit frommen Reden protzt. Eigentum bindet an die Welt. Wer zu viel besitzt, kann nicht loslassen. Tolstoi wollte nicht haben, sondern sein.

Aber eine gewisse gläubige Eitelkeit saß ihm wie ein Stachel in der Seele. Ob er sich am Ende, als er im Oktober 1910 bei Nacht und Nebel aus dem Haus floh, doch nur erniedrigte, um sich vor den Augen der Nachwelt zu erhöhen? Die Sorge, dass man es ihm so auslegen könnte, äußerte er selbst. Die Wahrheit seines Lebens erschien ihm mindestens ebenso wichtig wie die christliche, die er mit seinem Weggang endgültig zu beglaubigen hoffte. Er bemühte sich, nicht missverstanden zu werden. Doch viel Zeit blieb ihm nicht mehr. Eine Lungenentzündung warf ihn nieder. Er starb, belagert von Journalisten und Schaulustigen, am 20. November 1910 auf der Bahnstation von Astápovo in selbstgewählter Armut.

Roland Mörchen

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