Es ist eine bemerkenswerte Begleiterscheinung der gegenwärtigen Umbrüche, dass sich die Erwartungen von Politikern und Wirtschaftsführern immer wieder auf die Träger der religiösen Traditionen der Menschheit richten. Damit ist die Hoffnung verbunden, dass ein Dialog der Kulturen und Religionen dazu beitragen kann, eine Kultur wechselseitiger Verantwortung von Bürgern und Gemeinschaften zu schaffen und so die Bemühungen um eine neue Weltordnung auf eine tragfähige Basis zu stellen. Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite repräsentieren Religionen ein gesellschaftliches Machtpotenzial und nehmen daher teil an der Ambivalenz von Macht als Herrschaft von Menschen über andere Menschen. Insofern stehen Religion und Politik, da beide mit Macht zu tun haben, in latenter Spannung zueinander, so dass zu fragen ist, ob Religionen möglichst aus den Bemühungen um eine Neuordnung der internationalen Beziehungen herausgehalten werden müssen.
Latente Spannung
Konrad Raiser legt nun eine Studie vor, in der er sich auf einen Erkundungsweg begibt, der die Grenzen und Möglichkeiten für das Zustandekommen einer zukunftsfähigen Weltordnung auslotet. Raiser unternimmt eine Tour d'horizon: von der Staatskunde bis zum Verhältnis von Religion und Politik und deren Entstehung und Herausforderung durch den Fundamentalismus. Selbstverständlich werden Christentum und Islam in Bezug auf diese Fragestellung vorgestellt, aber eben auch Entwicklungen im Buddhismus und im Judentum, um nur zwei weitere Beispiele zu nennen.
Die globale Perspektive ist Raiser wichtig, denn es geht ihm um die Gesamtschau, die an Hand konkreter Beispiele aus den verschiedenen Kultur- und Traditionsbereichen entwickelt wird. Überraschend ist allerdings, dass maßgebliche Entwicklungen in Lateinamerika oder in Osteuropa vollständig ausgeblendet bleiben. Trotzdem: Es handelt sich um eine kundige und breit angelegte Studie, die sich zudem streckenweise spannend liest wie ein Kriminalroman.
Zentrales Anliegen Raisers ist das Plädoyer für die Schaffung eines globalen öffentlichen Raumes, in dem sich die Interessen der Menschen und Völker im Unterschied zu den nationalen Interessen der Staaten artikulieren können und sich eine Willensbildung über die Grundlagen einer Weltordnung vollziehen kann. Den Religionen als Hüter der kulturellen Traditionen weist Raiser die Aufgabe zu, im Dialog miteinander ihre Traditionen füreinander zu öffnen und das ihnen innewohnende Potenzial für den Aufbau einer Ordnung gemeinsamen menschenwürdigen Lebens zu aktivieren. Damit, so die abschließende Antwort Raisers auf die eingangs gestellte Grundfrage, treten sie nicht in Konkurrenz zu den Aufgaben der Politik, sondern erfüllen ihre Rolle in der konstitutiven Bezogenheit von Religion und Politik.
Globaler öffentlicher Raum
Wie ein solcher Beitrag aussehen könnte, führt Raiser am Beispiel der Menschenrechte vor, die begründungsoffen formuliert und im Dialog der Weltreligionen verankert, eine Legitimationsbasis für eine neue Weltordnung darstellen können.
Dabei ist Raiser die Langmut und der unabdingbare Optimismus abzuspüren, die wohl aus der Erfahrung eines Generalsekretärs des Weltkirchenrates resultieren. So traut Raiser dem Islam, der noch in der Erklärung von Kairo 1990 die Scharia als alleinige Grundlage der Menschenrechte beschrieb, beachtliches Entwicklungspotenzial zu. Die Situation in Deutschland will die Studie ausdrücklich nicht in den Blick nehmen. Dabei betrifft Raisers Grundfrage auch die politische Situation hierzulande. Insbesondere die Kirchen in Deutschland müssen sich fragen lassen, wie sie zu dieser Frage stehen, wie es um ihre Bereitschaft und ihren Willen steht, die eigene Tradition zu öffnen, zuhause ebenso wie im weltweiten Zusammenwirken, denn von Mut oder weltweiter Perspektive ist bei ihnen oft wenig zu spüren. Sie mögen sich am Geist der Studie Konrad Raisers ein Beispiel nehmen.
Konrad Raiser, Religion Macht Politik. Auf der Suche nach einer zukunftsfähigen Weltordnung. Otto Lembeck Verlag, Frankfurt am Main 2010, 323 Seiten, Euro 22,-.
Ivo Huber