Sehnsucht und leichtes Leben

Eine Sommerreise nach Danzig und in die Masuren im Jahre des Herrn 2010
(Foto: Reinhard Lassek)
(Foto: Reinhard Lassek)
Eine Familie, Vater, Mutter und 18-jähriger Sohn, reisten nach Ostpreußen - auf den Spuren ihrer Vorfahren und der alten Heimat.

Das Land der Masuren ist die verlorene Heimat meiner Eltern und Großeltern. Auch Eva, meine Frau, wur­de dort geboren, als Kind der deutsch-masurischen Minderheit. Grund genug, unseren Sommerurlaub hier, im ehemaligen Ostpreußen zu verbringen.

Unser Sohn Oliver ist sich bewusst, dass diese Reise nicht allein den sommerlichen Badevergnügungen gilt. Für ihn wird es, in seinen letzten Sommerferien vor dem Abitur, eine Bildungsreise der besonderen Art.

"Die eigentlich bewegenden Reisen sind jene, die in die Vorstellung oder in die Vergangenheit führen", heißt es bei Wolf Jobst Siedler. Wir rechnen damit, dass es eine bewegende Reise wird. Aber werden es auch unbeschwerte Urlaubstage?

Die glücklichsten Jahre

Zuerst geht es nach Danzig (Gdánsk). Vom imposanten Turm der Marienkirche blicken wir herab auf die großartig restaurierte Altstadt. Drüben, jenseits der Weichselmündung, etwa vierzig Kilometer weiter östlich, beginnt die Frische Nehrung. Auf jenem Landstrich zwischen Frischem Haff und Ostsee verbrachten meine Eltern - trotz der großen Bedrängnisse jener Zeit - ihre glücklichsten Jahre. Drei meiner sechs Geschwister sind im Landkreis Elbing (Elblag) geboren, mein ältester Bruder sogar noch weiter östlich, nahe Königsberg.

Mein Vater wurde in Danzig, vor dem Altar der Marienkirche, im September 1941 zum Pfarrer ordiniert. Dem jungen Bekenntnispfarrer - der bereits als Vikar durch Predigtverbot, Gehaltssperre und Inhaftierung durch die Nazis drangsaliert wor­den war - erreichten nach der Ordination zwei Gratulationsschreiben: Das eine faselte von "Volk, Führer und Vaterland" und endete mit "Deutschem Gruß", das andere wünschte "Gottes Segen". Ersteres Schreiben kam von der Kirchenleitung, das zweite vom Danziger Magistrat.

Das touristische Gedränge ist groß, der Abstieg vom Turm lang und der letzte Blick auf Orgel und Altar kurz. Wir befinden uns wieder in der Gegenwart, erfreuen uns des internationalen Flairs dieser lebendigen Stadt. Auf unserem Weg in die "Woiwodschaft Ermland-Masuren" machen wir einen Abstecher zur Marienburg (Malbork). Dieses gewaltige Bauwerk, Kreuzung aus gotischer Kathedrale und Festungsbau, lassen wir links liegen, zu lang ist die Warteschlange. Und Eva kennt diesen Sitz der Hochmeister des Deutschen Ordens ohnehin noch aus ihrer Schulzeit. Ein Vergnügen war die Klassenfahrt damals für sie nicht. Deutschstämmige wa­­ren "Hitlerowcy" und die Kreuzritter Vorläufer der SS.

Storch Nummer 117

Zwei Störche von trauriger Gestalt sitzen auf einer Straßenlampe. Die schwarz-weiße Befiederung ist stark verschmutzt, als schämten sie sich, die Farben des Ordens zu tragen. Ich zähle seit meiner ersten Storchensichtung begeistert mit. Nach nur drei Tagen werde ich bei Storch Nr. 117 angelangt sein und diesen beglückenden Mikrozensus abbrechen.

Schließlich beziehen wir unsere Zim­mer am Ubliksee. Welch großartige Aus­sicht! Der "Hotel-Park Ublik", ein ehemaliger preußischer Junkersitz, befindet sich im Dreieck zwischen Lötzen (Gizy­cko), Lyck (Elk) und Nikolaiken (Mikolajki). Und da die hochsommerliche Hitze gerade Rekordwerte erreicht, sind wir mehr im als am See.

Dann aber sitzen wir wieder entspannt im Liegestuhl. Oliver und ich lesen. Eva hat ihre Urlaubslektüre beiseite gelegt und plaudert mit einer Journalistin aus Warschau. Diese hatte sofort erkannt, dass wir aus Deutschland sind: "Kein Pole liest im Urlaub Bücher." Ungläubig schaue ich in die Runde: In der Tat, keiner der rund 45 Gäste liest, nicht einmal eine Illustrierte. Tags darauf hat sich die Zahl der Leseratten verdoppelt. Drei Fahrradtouristen sind eingetroffen, sie kommen aus Süddeutschland.

Polnische Gastfreundschaft

Evas Geburtshaus liegt nur wenige Kilometer vom Ubliksee entfernt, in Arys (Orzysz). Auch die Hoteldirektorin stammt von dort. Eine Gemeinsamkeit, die uns die Vorzüge polnischer Gastfreundschaft erfahren lässt: Wir zahlen "Übernachtung und Frühstück", zum Mittagsbuffet sowie zu den vier Grillabenden sind wir eingeladen. Wir besuchen dann Klaussen (Klu­sy). Hier lebten sowohl Evas als auch meine Großeltern. Sie waren Nachbarn und sogar Freunde.

Wir stehen vor der Kirche, in der einst mein Großvater Gustav den Posaunenchor leitete. Ein großer Teil der Verwandtschaft wurde hier getauft, konfirmiert und getraut. Be­erdigt wurden sie dann später zumeist irgendwo tausend Kilometer weiter westwärts.

(Foto: Reinhard Lassek)
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Barteks Sommerfest.

(Foto: Reinhard Lassek)
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Steinort, der ehemalige Herrensitz der Grafen Lehndorff.

(Foto: Reinhard Lassek)
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Überreste der Wolfsschanze.

Im benachbarten Ogrodken (Ogródek) besuchen wir das Michael-Kayka-Museum. Der berühmteste Dichter masurischer Sprache ist Evas Ur- und somit Olivers Ururgroßvater. Wir werden von der Museumsleitung zu Kaffee und Gebäck eingeladen und führen ein langes, intensives und zuweilen auch etwas mühsames Gespräch. Doch das ist eine ganz eigene Geschichte. Oliver hat mit einiger Verblüffung zur Kenntnis genommen, dass es in Masuren kaum einen größeren Ort gibt, in dem nicht eine Straße oder ein Platz nach seinem Ururgroßvater benannt ist.

Straßen nach dem Ururgroßvater benannt

Wir quartieren uns auf einem malerischen Vierkanthof nördlich von Lötzen (Gizycko) ein - irgendwo zwischen Kruklanken (Kruklanki) und Angerburg (Wegorzewo). Wir werden von guten Freuden erwartet. Gemeinsam mit Kat­rin und Dirk bewohnen wir das Gästehaus auf dem Sommersitz eines Göttinger Professorenpaares, Margit und Peter. Sie haben sich schon vor Jahren in diese Landschaft verliebt, polnisch gelernt und hier einen ganz eigenen, ru­hig-gelassenen und zugleich sinnlich-heiteren Lebensstil entwickelt.

Unser erster Ausflug gilt Allenstein (Olsztyn). Die Hauptattraktionen der Schlossbesichtigung sind ein Porträt sowie eine astronomische Wandzeichnung des großen Kopernikus. Und als wir über den Marktplatz schlendern, staunen wir nicht schlecht, hier den Schriftzug der Deutschen Bank zu entdecken. Und diese großen blauen Neonbuchstaben sind nicht die einzigen leuchtenden Beispiele deutsch-polnischer Entkrampfung. Wir entdecken allerorten den Lebensmitteldiscounter Lidl. Die Speisekarten der Restaurants gibt es zumeist auch in deutscher Version. Nur die günstigen Preise und Gerichte sind rein polnisch - glücklicherweise. Zumeist bestellen wir "Pierogi" - Teigtaschen mit Fleisch, Fisch, Frischkäse, Kohl, Waldpilzen oder auch Heidelbeeren gefüllt.

Vor der evangelischen Kirche in Lötzen (Gizycko): Sie ist eine der wenigen, die nach 1945 nicht katholisch umgewidmet wurde. Jeden Sonntag finden hier zwei Gottesdienste statt, einer auf Deutsch und einer auf Polnisch. Einige Tafeln auf dem Kirchplatz geben einen Überblick über die Historie der Stadt - auf Polnisch, Englisch und Deutsch. Dem­nach waren die Jahre zwischen 1945 und 1947 eine Zeit "großer Wanderungen". Über das jüngste und zugleich schäbigste Kapitel der deutsch-polnischen beziehungsweise evangelisch-katholischen Nicht-Beziehungen schweigt man sich aus. Als Johannes Paul II. 1979 erstmals als Papst seine polnische Heimat aufsuchte, lieferte dies den Anlass und gewissermaßen den Ablass dafür, den wenigen noch verbliebenen evange­lischen Gemeinden ihre Kirchen entweder zu schänden oder wegzunehmen.

Verheißungsvolle Aufbrüche

Aber lassen wir die Verwerfungen der Vergangenheit und widmen uns den verheißungsvollen Aufbrüchen der Gegenwart. Auf dem Vierkanthof ist eine Sommerfete angesagt. Wir genießen inmitten einer fröhlichen Runde Margits Kochkünste. Man spricht Deutsch, Polnisch und Englisch. Der Wein ist aus Italien.

Die meisten hier kennen einander. Hier trifft sich offenbar eine Art Masuren-Fraktion. Nach dem Dessert geht es zum Lagerfeuer mit Seeblick. In den alten Balken, die dort verglühen, steckt noch so manch handgeschmiedeter Na­gel, Souvenirs dieses masurischen Sommernachtstraums.

Laut schimpfend trollt ein Dachs vorüber und reißt mich aus dem Schlaf. Ansonsten sind die Nächte hier so zauberhaft still, dass jede Stunde Schlaf als Verschwendung erscheint. In aller Frühe rufen von irgendwoher Kraniche. Und während sich die Störche auf der Wiese hinter dem Haus niederlassen, blättere ich im Ergebnisband eines deutsch-polnischen Forschungsprojekts zum Thema "Soziale Konstruktion von Heimat". Herausgeber ist Ulrich Mai, einer der Gäste des gestrigen Abends. Sein Buch trägt den Titel Masuren: Trauma, Sehnsucht, leichtes Leben. Zur Gefühlswelt einer Landschaft.

Drei Ausflüge stehen noch auf dem Programm. Doch nur der Bummel über den Wochenmarkt von Angerburg (Wegorzewo) passt zur Rubrik "Sehnsucht, leichtes Leben". Die Fahrt zur "Wolfsschanze" bei Rastenburg (Ketrzyn) ist eher dem masurischen Trauma zuzurechnen. Und auch der Abstecher nach Steinort (Sztynort), zum Schloss der Grafen Lehndorff, bietet nicht nur Heiteres: Einst einer der schönsten und bedeutendsten Herrensitze Ostpreußens, bietet es heute Ansichten des Verfalls.

Verfall

Unser letzter Abend ist wieder einer des unbeschwerten Frohsinns. Wir fahren zum "Campingplatz am See", auf Barteks Sommerfest. Bartek und seine Familie kennen wir bereits vom Abendschmaus auf dem Vierkanthof. Margit hat uns den "schönsten Campingplatz der Welt" versprochen. Und wir sind dann auch hellauf begeistert von der Urwüchsigkeit und Originalität der Anlage. Mir gefällt vor allem das an den Seiten offene "Kulturhaus", eine Versammlungsstätte, die man eher auf einer Südseeinsel erwartet. Die Sauna mit Balkon und Seeblick versteckt sich beinahe im Schilfgürtel. Direkt neben dem Stromverteiler hängt - wohl als zusätzliche Sicherung - ein kleines Kruzifix.

Barteks Campingplatz ist ein Begegnungszentrum, quasi ein masurisches Taizé, in dem sich alljährlich eine überkonfessionelle, supranationale Urlaubsgemeinschaft einfindet. Uns wird ein Ehrenplatz zugewiesen. Bartek serviert zunächst eine kräftige Aalsuppe, hernach Salate, Brot, sowie Unmengen frisch geräucherter Maränen. Dazu selbstbereiteter "Bärenfang". Musikalischer Höhepunkt ist Barteks "Kleine Grasmusik". Von zwei Gitarristen begeleitet bläst er Gershwins "Summertime" - auf einem Grashalm wohlgemerkt. Und wir hören da kein nerviges Gezirpe, sondern einen vollendeten Polski-Blues.

Fast haben sich da die langen Schatten der Vergangenheit verflüchtigt. "Wie kann man diese Heimat verlieren, ohne daß einem das Herz bricht?", fragt der Hamburger Ralph Giordano, Jahrgang 1923, in seinem Buch Reise durch ein melancholisches Land. Nun, uns ist hier angesichts der Gastfreundschaft das Herz aufgegangen. "Ihr kommt doch wieder?", fragt uns Barteks Tochter Tosia beim Abschied. Und sie tut dies mit so strahlenden Augen, dass wir sie keinesfalls enttäuschen wollen. Unsere nächste Masurenreise wird jedoch allein der Sehnsucht und dem leichten Leben gelten, das Trauma haben wir hinter uns gelassen.

LITERATUR Ulrich Mai (Hg.): Masuren: Trauma, Sehnsucht, leichtes Leben. Zur Gefühlswelt einer Landschaft. Bielefelder Geographische Arbeiten Bd. 6. LIT Verlag, Münster 2005, 336 Seiten, Euro 30,90. Ralph Giordano: Ostpreußen ade. Reise durch ein melancholisches Land. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994, 368 Seiten, Euro 9,95. Wolf Jobst Siedler: Wanderungen zwischen Oder und Nirgendwo. Das Land der Vorfahren mit der Seele suchend. Siedler Verlag, München 2007, 160 Seiten, Euro 14,95.

Reinhard Lassek

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