Die Lampe glüht wieder
Niemand, naja: fast niemand spuckt auf den Boden. Schon daran sieht man, dass hier etwas Besonderes passiert. Ein Großteil der Bewohner dieses Lepradorfes in der chinesischen Provinz hat sich in der Dorfhalle, einem schmucklosen Betonbau, versammelt, um eine katholische Messe zu feiern. Und der Priester wird gleich kommen.
Etwa fünfzig vor allem alte Leute warten, viele noch in blauer Mao-Kluft. Die meisten hat Lepra Gesicht und Hände entstellt. Nüchtern, arm und schmuddelig ist alles hier, einzig der goldene Kelch auf dem Tischaltar, das prächtige Messbuch und ein Standkreuz daneben verbreiten ein wenig katholische Opulenz und einen Hauch von Spiritualität. Doch dann kommt der junge Priester, gekleidet in ein schlichtes Messgewand. Er predigt, in der Mitte der Gemeinde stehend, zu den geschundenen Menschen. Er gibt ihnen bei der Kommunion die Hostien in die Hand oder in den Mund, ohne Angst vor einer Ansteckung. Er schüttelt den Ausgegrenzten, den - biblisch gesprochen - Aussätzigen die Hand zum Friedensgruß. Und das Strahlen in den verstümmelten Gesichtern zeigt, was Kirche sein kann. Welch ein Gottesdienst!
Bald eine der größten katholischen Teilkirchen?
Die katholische Kirche in China ist vergleichsweise klein, ziemlich arm, zerrissen und teilweise verfolgt. Befreiungstheologische Ansätze einer Kirche der Armen, wie sie bei der Messe im Lepradorf anklangen, sind ihr eher fremd. Und doch schauen der Vatikan, einige Politikwissenschaftler und sicherlich das autoritäre Regime gebannt auf diesen Teil der katholischen Weltkirche. Denn im Reich der Mitte mit seinen rund 1,4 Milliarden Menschen könnte in wenigen Jahrzehnten eine der größten katholischen Teilkirchen entstehen.
Zwar gibt es in der Volksrepublik derzeit wohl nur zwischen 12 und 14 Millionen Katholiken, wobei diese Zahl mit Vorsicht zu genießen ist. Denn manche Experten gehen nur von vier, andere von etwa zwanzig Millionen Katholiken aus. Klar ist aber, dass ihre Zahl im Vergleich zu ihren protestantischen Brüdern und Schwestern in Christo auf den ersten Blick nicht so eindrucksvoll, weil viel niedriger ist. Deren Zahl schwankt, je nach Rechercheansatz der Fachleute, zwischen zehn und siebzig Millionen. 1949 sollen es noch unter einer Million gewesen sein.
Doch auch die Dynamik der katholischen Kirche lässt die Religionsexperten aufhorchen: Seit Gründung der Volksrepublik 1949 hat sich die Zahl der Katholiken etwa vervierfacht - prozentual also etwa verdoppelt. Und sollte sich die sehr restriktive Religionspolitik des Einparteienstaates weiter lockern, ist eine weitere Expansion des Christentums und ihres katholischen Zweiges ziemlich wahrscheinlich.
Gerade in den letzten Jahren ist ein faszinierendes Experiment bei der katholischen Kirche Chinas zu beobachten, nämlich wie ein Teil der Kirche, der stets illegal im Untergrund agierte, langsam an die Oberfläche kommt und legal wird, indem er sich mit der offiziellen, vom Staat anerkannten Teil der katholischen Kirche Chinas wiedervereinigt.
Langsam an die Oberfläche
Um das zu verstehen, ist ein Blick in die Geschichte des Christentums in China vonnöten - und schon hier zeigt sich ein beständiger Wechsel zwischen Liberalität und Restriktion im staatlichen Handeln gegenüber dem Christentum: Zwar errichteten nestorianische Mönche in China schon im 7. Jahrhundert Klöster, doch im 9. Jahrhundert war ihre Blüte schon wieder vorbei. Ein kaiserliches Edikt verbot alle fremden Religionen. Ähnliches wiederholte sich zwischen 1294 und 1368 sowie zwischen 1582 und 1715.
Doch als nach dem Opiumkrieg 1840-42 die westlichen Großmächte eine erneute Mission im technisch rückständigen und besiegten China erzwangen, schnellte die Zahl der Katholiken bis Ende des 19. Jahrhunderts auf etwa eine Million Menschen nach oben. Dieser Blüte folgte erneut eine jähe Katastrophe, als beim Boxeraufstand im Jahr 1900 rund 18.000 Christen ermordet wurden. In der Zeit der Republik China von 1911 bis 1948 wuchs die Zahl der Katholiken in China erneut auf über drei Millionen Menschen.
Diese Entwicklung brachte Mao Tse-Tung zum Stillstand, als er 1949 die kommunistische Volksrepublik als atheistischen Staat ausrief - mit der Folge der Verfolgung aller Religionen, vor allem des Christentums. Die Kirche war in China also schon immer auch eine verfolgte Gemeinschaft. Und gerade in den vergangenen Jahrzehnten wurde das so deutlich wie nie. Vor allem in den Fünfzigerjahren wurden alle ausländischen Missionare ausgewiesen und die chinesischen Priester und Ordensleute in Gefängnisse gesteckt.
Im Jahr 1957 wurde auf Druck der Kommunistischen Partei die - vom Papst unabhängige - Patriotische Vereinigung der Chinesischen Katholischen Kirche gegründet. Es folgte ein Schisma, das bis heute anhält: hier die romtreue, so genannte Untergrundkirche, dort die vom Staat anerkannte offizielle Kirche. Zwar wurden bei der blutigen Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 auch die offiziellen Katholiken verfolgt und ihre Kirchen geschlossen. Doch seit der Öffnung Chinas, die in den Achtzigerjahren einsetzte, werden "nur" noch die Untergrund-Katholiken drangsaliert.
Drangsalierung der Untergrund-Katholiken
Für Pekings Nomenklatura ist dabei das Wesentliche die möglichst totale Kontrolle der Kirche, gemäß der "Drei-Selbst", die Mao schon 1950 verkündete. Das heißt: Selbst-Erhaltung, also die finanzielle Unabhängigkeit der Kirche, Selbst-Verbreitung, also keine ausländische Missionare im Lande, und vor allem Selbst-Verwaltung, also Unabhängigkeit von Rom. Diese Prinzipien gelten bis heute. Am 30. Juli 2007 aber begann mit einem Brief des Papstes an die chinesische Kirche ein neues Kapitel, das bis heute anhält: Benedikt XVI. mahnte die Untergrundkirche wie die offizielle Kirche zur Einheit - seitdem nähern sich die Untergrundkirche und die offizielle katholische Kirche Chinas einander an.
Was aber bedeutet das konkret? Da ist zum Beispiel die einfach gekleidete Frau Ende Vierzig, die sich selbst als Mitglied der Untergrundkirche bezeichnet und deshalb anonym bleiben will. Man kann sie im Blumenladen ihrer jüngeren Schwester irgendwo im Nordosten Pekings treffen. Nur flüsternd ist ein Gespräch mit ihr möglich, und es erstirbt, sobald ein Kunde auftaucht. Sie erzählt von den Zusammenkünften der Untergrundchristen, die irgendwo in der Provinz in Privathäusern katholischer Familien an Sonntagen oder katholischen Feiertagen stattfinden. Wenn möglich, ist ein katholischer Untergrundpriester anwesend, der die Sakramente spendet. Manchmal taucht anschließend die Polizei bei den Katholiken auf.
Die Frau im Blumenladen sagt, sie nehme nicht an den Messen der offiziellen Kirche teil, manche ihrer Freunde täten das aber, wenn es keine andere Möglichkeit gebe. Und manchen Katholiken ist es mittlerweile schlicht egal, ob sie einem offiziellen oder einem Untergrund-Gottesdienst beiwohnen. Die Frau aus dem Blumenladen ist da resoluter: Sie hat sogar schon während ihres Urlaubs Bibelkurse für Studenten gegeben - ein Engagement, das der Staat nicht gern sehe, wie sie sagt.
Insofern war der Papstbrief vor drei Jahren für die Kirche in China eine Zeitenwende - auch wenn er innerhalb der Untergrundkirche umstritten war. Bitter schrieb etwa ein anonym gebliebener junger Priester aus Nordchina über das Schreiben Benedikts XVI.: "Der Brief des Papstes erwähnt mit keinem einzigen Wort die Bischöfe und Priester, die noch im Gefängnis sind. Ich persönlich halte das wirklich für einen Mangel. Wir haben nicht erwartet, dass der Papst in seinem Brief zu großer Unterstützung für diese leidenden Brüder aufruft, weil die Kirchengeschichte uns lehrt, dass diejenigen, die, in welchem Land auch immer, ihr Leben und ihr Blut für den Glauben hingeben, am Verhandlungstisch nicht viel zählen."
Um Anerkennung des Papstes bemüht
Wie auch immer, jedenfalls ist die katholische Kirche derzeit so präsent im Land wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Während es nach der Kulturrevolution in China gerade noch zwei katholische Kirchen gab, eine in Peking und eine in Shanghai für Ausländer und Diplomaten, sind es heutzutage insgesamt über sechstausend Kirchen und Kapellen. Und Zehntausende von Katholiken nehmen an den großen Marienwallfahrten im Mai und Oktober teil.
Mittlerweile hat sich die Mehrzahl der ohne römische Erlaubnis geweihten Bischöfe der offiziellen Kirche nachträglich um eine Anerkennung durch den Papst bemüht. Der Alterzbischof von Hongkong, Joseph Kardinal Zen Ze-kiun, geht davon aus, dass etwa 80 Prozent des chinesischen Episkopats vom Vatikan anerkannt ist. Manche Untergrundbischöfe gelten in der Sicht der Behörde zwar weiter als illegal, können aber offen in einer Kirche amtieren.
Zwei Bischofsweihen selbst im turbulenten Jahr 2007 zeigen die leichte Entspannung zwischen Rom und Peking, denn beide Oberhirten, darunter der Bischof von Peking, Joseph Li Shan, wurden mit vorheriger Zustimmung aus Rom inthronisiert. Zudem gibt es durchaus prächtige Bischofskirchen von Oberhirten der Untergrundkirche - darunter Gotteshäuser mit über fünfzig Meter hohen Türmen. Und die Annäherung zwischen den beiden Kirchen scheint immer weiter zu gehen. So wurden in diesem Jahr bereits acht neue Bischöfe ernannt. Und alle wurden sowohl von den chinesischen Behörden wie von Rom anerkannt.
Bischöfe unter Hausarrest
Andererseits sind seit Jahren zwei katholische Bischöfe aus dem Untergrund in Haft, wie die China-Expertin Katharina Wenzel-Teuber vom China-Zentrum in Sankt Augustin weiß: Su Zhimin, Bischof der Diözese Baoding in der Provinz Hebei, sitzt seit 1996 im Gefängnis. Shi Enxiang, Bischof der Diözese Yixian, die ebenfalls in der Provinz Hebei liegt, ist seit neun Jahren inhaftiert. Und Jia Zhiguo, Bischof der Diözese Zhengding (Provinz Hebei), wurde erst am 7. Juli nach 15 Monaten aus dem Gefängnis entlassen. Er war in den letzten Jahren mehrfach inhaftiert worden. Darüber hinaus dürften mindestens vier weitere Bischöfe unter Hausarrest stehen. Und mindestens zwei Dutzend Priester sind wohl ebenso in Haft oder stehen unter Hausarrest.
Besonders tragisch ist das Schicksal Han Dingxiangs, des Bischofs der Diözese Yongnian in der Provinz Hebei. Der 70-Jährige starb am 9. September 2007 in Polizeigewahrsam. Und die Umstände seines Todes lassen vermuten, dass er den Folgen von Folter erlag. Bischof Han hatte insgesamt 35 Jahre seines Lebens im Gefängnis oder im Hausarrest verbracht.
Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser diffusen Lage könnten die kommenden Wochen entscheidend sein für die Zukunft der katholischen Kirche in China: Mit Spannung wird unter Experten die Achte Nationalversammlung der offiziellen Kirche erwartet. Dazu muss man wissen, dass in China nur fünf "Religionen" offiziell anerkannt sind, Buddhismus, Taoismus, Islam, Katholizismus und Protestantismus. Alle anderen Glaubensrichtungen, auch das Judentum, gelten offiziell als "Aberglaube" oder "Häresie".
Die fünf offiziellen Religionen sind gehalten, alle fünf Jahre Nationalversammlungen abzuhalten, die das Führungspersonal bestimmen. Die offizielle katholische Kirche hielt ihre letzte Versammlung vor sechs Jahren ab. Angeblich wegen des Erdbebens in Sichuan, der Olympischen Spiele 2008 und der EXPO in diesem Jahr wurde die Versammlung mehrmals verschoben. Sie soll aber bis Jahresende stattfinden. Die Nationalversammlung soll die offizielle Bischofskonferenz und die Leitung der "patriotischen" Kirche wählen.
Lackmus-Test
Beide Gremien werden jedoch vom Vatikan nicht anerkannt. Insofern wird es für die katholische Kirche in China ein Lackmus-Test sein, wer zur Versammlung kommt - und wer nicht.
Nach der Messe im Lepradorf geht der Priester zu den Nonnen, die sich um die Kranken und Invaliden kümmern. Am ihrem Tisch plaudert er ein wenig über seine Ausbildung im Ausland und über die Lage der Kirche in China. Eine Spaltung der Kirche sieht er nicht mehr - aber es ist unklar, ob er nur vorsichtig ist, weil er seine Gesprächspartner nicht einschätzen kann. Dann bitten die Nonnen, ihnen noch bei einer Kleinigkeit zu helfen. Sie holen ein kleine Trittleiter herbei. Der Priester soll eine Neonlampe austauschen, die nicht mehr brennt. Etwas verlegen, aber freundlich klettert der Geistliche hinauf und berührt die Lampe - sofort fängt sie wieder an zu glühen. Alle lachen überrascht. Vielleicht war das ja das heutige Wunder der katholischen Kirche in China.
Philipp Gessler ist Redakteur der taz.
Philipp Gessler