Vielleicht war es Hilflosigkeit, vor allem aber Perfidie, als man 1999 versuchte, Marilyn Manson die geistige Urheberschaft für das Massaker an der Columbine Highschool zuzuschieben. Weise dagegen, wie der Schockrocker auf die ihm oft gestellte Frage antwortete, was er den beiden jugendlichen Amokläufern gesagt hätte, so Gelegenheit dazu gewesen wäre: "Nichts. Ich hätte zugehört. Das ist das Problem: Niemand hat ihnen zugehört."
Wen nun der Puls unserer Zeit interessiert, lasse sich von entdeckungs- und stilsicheren Jugendlichen durch den Du-Schlauch spülen - denn auf youtube. com finden heute Expression, Leidenschaft, Witz, kreatives Echo biografischen Zwiespalts und Austausch darüber statt.
Kanonisch
Auf Bonaparte stößt man dabei unweigerlich. Seit die Nachgeborenen - zunächst eine Elektropunk-/Theater-/Trash-Band um den von Barcelona nach Berlin vagabundierten Schweizer Tobias Jundt (32) - vor zwei Jahren ihr Debut Too much mit den Schlauch-Hits "Anti Anti" und eben "Too much" ("You know Tolstoi, I know Playboy, you know politics, I know party chicks, you know too much, too much, too muc") veröffentlichte, sind sie kanonisch.
Musiker, Tänzer, Kostümbildner, Fotografen und Videofilmer aus aller Welt sind Bonapartes Umfeld, wobei die Band sich selbst nur als Medium zum "Festhalten von Ideen" sieht. Konzerte des eifrig wandernden, trashig bis exotisch kostümierten, ekstaseträchtigen, hedonistisch gewitzten Elektro-Rock'n'Roll-Zirkus überzeugen uns davon. Dennoch ist es unverzichtbar, auch die zweite CD anzusagen: My Horse likes you.
Ein wüst gekonnter Strauß zwischen Streicherouvertüre, wieherndem Elektrorumble (Titelsong) und psychedelischem Neurotransmitter-Dub ("Orangutang": "I am you dressed as a monkey"), waschechtem Ragtime ("Rave Rave Rave"), elegant pumpendem Housebeat ("Computer in Love": "Who is google anyway?"), Russendisko, Funk-Hochamt ("My Body is a Battlefield") und galoppierender Party.
Hier gehen alle Pferde steil, der wortgewandte, ohne PC-Planken (fast nur in Englisch) reimende Tobias Jundt deklamiert etwa einen Anti-Speziesismus-Song ("Wir sind keine Menschen - Tiere sind wir, Menschen gibt es nicht"), der dem "Kirchentag Mensch und Tier" in Dortmund wegen seines Augenzwinkerns gut getan hätte, oder peitscht den hungrigen Dancefloor orientalisierend in Beziehungsskeptizismus ("Adabmal"). Bonaparte agitieren Körper und Geist. Bald in Ihrer Stadt. Musik, die Genuss und wichtig ist.
Bonaparte - My Horse likes you. Staatsakt (rough trade)
Udo Feist
Udo Feist
Udo Feist lebt in Dortmund, ist Autor, Theologe und stellt regelmäßig neue Musik vor.