Radikale Forderung

EKD-Synode: Bildungsgerechtigkeit gehört zum evangelischen Selbstverständnis
Marktkirche in Hannover. (Foto: dpa/Peter Steffen)
Marktkirche in Hannover. (Foto: dpa/Peter Steffen)
"Niemand darf verloren gehen!" Unter diesem Motto verabschiedete die EKD-Synode, die vom 7. bis 10. Novem­ber in Hannover tagte, ein Evangelisches Plädoyer für mehr Bildungs­gerechtigkeit.

Mit kontroversen und die Gemüter erhitzenden Diskussionen war nicht zu rechnen. Schließlich hatten die EKD-Synodalen im vergangenen Jahr, während ihrer Tagung in Ulm, das Schwerpunktthema Bildung unter die Überschrift "Niemand darf verloren gehen!" gestellt. Ein Motto also, dem sicherlich alle Synodalen zustimmen konnten, von scheinbarer Selbstverständlichkeit. Bei näherer Betrachtung aber handelt es sich um eines, das eine radikale Forderung aufstellt.

Dass es für sie an der Zeit ist, zeigte Thomas Rauschenbach in seinem Referat zum Schwerpunktthema. Der Direktor des Deutschen Jugendinstituts in München lieferte besorgniserregende Fakten: Die Bildungskluft in Deutschland wächst beständig. Eine große Gruppe von Kindern und Jugendlichen steht in der Gefahr, dauerhaft abgehängt zu werden. Soviel geht auch aus dem neuen Bildungsbericht 2010 hervor.

Das Erschreckende aber ist, dass sich die jeweilige Bildungskarriere nicht erst am Ende, sondern schon am Anfang der Bildungslaufbahn von Kindern und Jugendlichen entscheidet. Und gerade in Deutschland hängt sie - wie kaum in einem anderen europäischen Land - in ho­hem Maße von der sozialen Herkunft ab. Daraus aber zieht der Erziehungswissenschaftler nicht die Folgerung, es käme nun darauf an, die Rolle der Familie zu minimieren. Vielmehr müsse ernst genommen werden, dass die Familie der Bildungsort Nummer eins sei. Deshalb gelte es, gerade sie zu fördern. Unterstützung bekam er durch einige Synodale, die eine Stärkung der Eltern bei Erziehung und Bildung einklagten.

Familie: Bildungsort Nummer eins

Thomas Rauschenbachs Forderungen sind nicht neu: Umsetzung des Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz von unter Dreijährigen, Ausbau der Ganztagsschulen - und Familienförderung durch Familienzentren, die den Eltern helfen sollen, nicht in sozialer Isolation stecken zu bleiben. Nebenbei räumte Professor Rauschenbach mit einigen Stereotypen auf: so mit der, Migranten schickten ihre Kinder zu wenig in Kindergärten - tatsächlich gehen in Deutschland 85 Prozent aller Kinder mit Migrationshintergrund in den Kindergarten.

Eine Kindergartenpflicht zu fordern, sei daher überflüssig und falle eher unter die Kategorie des politischen Aktionismus. Wichtiger sei es vielmehr, das Kindergartenangebot auszubauen. Wahr sei aber auch, dass keine Gruppe so viele Jugendliche ohne Schulabschluss aufzuweisen hat wie die türkische. Dass die Forderung nach Bildungsgerechtigkeit, wie sie die Synode formulierte, keineswegs naiv, sondern gut evangelisch ist, begründete der Berliner Theologieprofessor Christoph Markschies in seinem Referat "Theologische Überlegungen zu einem evangelischen Verständnis von Bildung und Bildungsgerechtigkeit": "Wenn Jesus Christus und nicht eine abstrakte Weltvernunft Gottes das modellgebende Bild Gottes ist, dann ist der Mensch nach dem Bild und Gleichnis Jesu Christi geschaffen und folglich jeder theologisch orientierte Bildungsbegriff mit Blick auf Jesus Christus zu entwickeln."

Als Negativfolie diente Markschies dabei der Humboldtsche Bildungsbegriff. Dort sei Bildungsgerechtigkeit bestenfalls Akzidenz, ein nebenhin vielleicht zu Gewährendes, nichts "Organisches". - Vielleicht eine etwas ungerechte Kennzeichnung, denn immerhin meinte auch Wilhelm von Humboldt, dass jeder Mensch dazu bestimmt sei, "sich vollständig auszuwickeln".

Ins Heute übersetzt, sich also zu "entwickeln". Dem Kirchenhistoriker aber kam es darauf an, dass ein Bildungsbegriff "auf der Basis der jüdisch-hellenistischen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen", christologisch grundiert, die Forderung nach Bildungsgerechtigkeit immer schon impliziere.

Patenschaften organisieren

Doch welche praktischen Konsequenzen folgen für den früheren Präsidenten der Berliner Humboldt-Universität daraus? Das A und O jeder Verbesserung von Bildungsgerechtigkeit liegt auch seiner Meinung nach im Ausbau der Betreuungsverhältnisse. In Schule wie Universität sieht der Theologe in dem Mangel an Lehrerinnen, Lehrern und Dozenten das Kardinalproblem des Bildungssystems: "Dort, wo keine Eltern und Lehrer zur Verfügung stehen oder deren Zeit nicht ausreicht, müssen sich Menschen finden, die Patenschaften für solche Kinder organisieren", sagte der Theologe vor den Synodalen.

Was denn auch nottut, formulierten die Synodalen in ihrer "Kundgebung". Dieser Beschluss, mit dem sich die EKD-Synode an die deutsche Öffentlichkeit wendet, wurde einstimmig verabschiedet. In ihr forderten die Synodalen längst überfällige Reformen im Bildungssystem, denn dieses entspreche "noch immer nicht dem Verständnis einer zeitgemäßen Bildung in der Wissensgesellschaft".

Die Reformatoren traten für ein öffentliches Schul- und Universitätswesen ein", heißt es in der Kundgebung. Bildung sollte schon damals nicht länger das Privileg Weniger bleiben, sondern vielmehr sollten Bildungschancen unabhängig von Herkunft und Stand eröffnet werden. Für heute übersetzt heißt das: "Aus Sicht der EKD muss die Politik mehr Bildungsgerechtigkeit für alle unabhängig von Herkunft und sozialem Hintergrund verwirklichen."

Bildungsausgaben erhöhen

Als besonders vordringlich nannte die Synode das Recht eines Kindes auf einen Platz in einer Kindertagesstätte, frühkindliche Förderung sowie die Einrichtung von Familienzentren und Mehrgenerationenhäusern. Ferner müsse jedes Kind die Möglichkeit erhalten, eine Ganztagsschule zu besuchen.

Und auch die Kundgebung erinnert daran, dass Bildung Geld kostet: Bund und Länder werden aufgefordert, konsequent an ihrem Ziel festzuhalten, bis 2015 die Bildungsausgabe auf 10 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu erhöhen und für eine stärkere Angleichung der unübersichtlichen Länderbildungssysteme zu sorgen.

An die eigene Adresse richtete die EKD-Synode den Appell, in Landeskirchen und Diakonie einen Schwerpunkt in der kirchlichen Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen zu setzen. Ob das allerdings angesichts knapper Kassen auf offene Ohren stößt, bleibt abzuwarten.

Kathrin Jütte

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Kathrin Jütte

Kathrin Jütte ist Redakteurin der "zeitzeichen". Ihr besonderes Augenmerk gilt den sozial-diakonischen Themen und der Literatur.


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