Den assistierten professionellen Suizid ermöglichen

Vollständige Dokumentation eines FAZ-Artikels in der Rubrik „Die Gegenwart“ aus Nr.8/2021, Seite 6, vom 11. Januar 2020:

Kirchliche Einrichtungen sollen bestmögliche Palliativversorgung gewährleisten, sich aber dem Suizid nicht verweigern. Einem Sterbewilligen sollen sie in Respekt vor der Selbstbestimmung Beratung, Unterstützung und Begleitung anbieten.

In seinem Urteil zum Paragraphen 217 des Strafgesetzbuchs (StGB) hat das Bundesverfassungsgericht im Februar vergangenen Jahres das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen auch und gerade im Blick auf das eigene Sterben und den eigenen Tod in den Mittelpunkt gerückt. Die Richter erklären das Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe, das der 2015 verabschiedete Paragraph 217 StGB zum Gegenstand hatte, für nichtig, da nach Auffassung des Gerichts angesichts des Mangels an Alternativen eine solche geschäftsmäßige Suizidbeihilfe faktisch der einzige Weg sei, über den Sterbewillige die professionelle Hilfe Dritter für einen Suizid in Anspruch nehmen können.

Das Gericht hat dabei keineswegs den Gesetzgeber dazu verpflichtet, sicherzustellen, dass jeder Suizidwillige auch tatsächlich die entsprechende Hilfe bekommt. Es gibt nach wie vor kein Recht darauf, Suizidbeihilfe in Anspruch zu nehmen. Assistenz bei der Selbsttötung ist auch nach diesem Urteil keine staatliche Verpflichtung. Weder der Staat noch einzelne Ärztinnen und Ärzte können gezwungen werden, Suizidhilfe zu leisten. Wohl aber hat das Urteil festgehalten, dass der Staat es dem Einzelnen nicht unmöglich machen dürfe, beim Suizid Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Rechtsordnung muss, so weit reicht die Selbstbestimmung des Einzelnen, den Weg offen lassen, für den eigenen Suizid auf freiwillige Unterstützer zurückzugreifen. Das gebiete der Respekt vor den Betroffenen, wenn sie sich selbstbestimmt, ohne äußeren Zwang und wohlüberlegt zur Selbsttötung entschlossen haben.

Vielfach und gerade im Raum der Kirchen ist diese Auslegung des Persönlichkeitsrechts als Verabsolutierung eines abstrakten Selbstbestimmungsrechts kritisiert worden. Eine solche Auffassung widerspreche nicht nur dem christlichen Bild des Menschen, das diesen und damit auch dessen Entscheidungen und dessen Lebensführung in seiner Beziehung zu Gott versteht. Es verkenne auch die elementare Tatsache, dass wir als Menschen immer in Beziehungskontexten leben, unabhängig wie intensiv diese sich konkret gestalten.

Jede Entscheidung für eine Selbsttötung hat, auch wenn sie wohlüberlegt und ohne äußeren Zwang getroffen wird, Auswirkungen auf die unmittelbar Beteiligten und die Gesellschaft als Ganzes. Insgesamt handele es sich bei der Profilierung der individuellen Selbstbestimmung als letzte Instanz, so der vielfach variierte Vorwurf, um eine naive Verbeugung vor einem idealisierten Heroismus des autonomen Subjekts im Angesicht des Sterbens.

Dabei mag für die kirchlichen Kritiker des Karlsruher Urteilsspruchs ein Reflex gegen die Überhöhung des Freitodes als einzig verbliebener Freiheit im Zeitalter der technisierten Massengesellschaft eine Rolle spielen, nicht zuletzt auch als Reflex gegen die antireligiöse Stoßrichtung solcher Positionen. Und in der Tat lassen manche Passagen des Urteils, gerade auch in ihrem kirchenkritischen Unterton, Anklänge einer heroisch-existentialistischen Verklärung der Selbstbestimmung erkennen.

Dennoch verfängt diese Kritik letztlich nicht. Denn sie verkennt die Sonderstellung einer solchen höchstpersönlichen Entscheidung am Lebensende. Hier kann, so auch der Urteilstenor, eine liberale Rechtsordnung gar nicht anders, als dem und der Einzelnen im Fall dieser zudem noch weltanschaulich aufgeladenen Fragestellung das Letztentscheidungsrecht zuzubilligen. Alles andere liefe auf einen Bevormundungsstaat hinaus, dessen Konsequenzen auch die Urteilskritiker nicht wollen - oder zumindest bei genauer Betrachtung nicht wollen können: Alle berechtigten Einwände, alle Hinweise auf die soziale Einbettung des Menschen und auf die Folgewirkungen individuellen Handelns kommen an dem Sachverhalt nicht vorbei, dass die Selbstbestimmung auch im Sterben gelten muss.

Dabei ist diese Selbstbestimmung strikt als ein Abwehrrecht zu konzipieren. Der Staat darf keine Normen erlassen, die die Ausübung der Selbstbestimmung im Sterben unmöglich machen. Daraus resultiert aber keine Verpflichtung, jede Form des Sterbens staatlicherseits zu ermöglichen. Ebenso wenig kann der Staat andere verpflichten, in einer bestimmten Form Hilfe zum Sterben zu leisten. Zwischen diesen beiden so nahe beieinander liegenden Aspekten verläuft die Grenze, die einen berechtigten Anspruch von einer unberechtigten Forderung unterscheidet. Das gilt für das Recht ebenso wie für die Ethik.

Die Einsicht, dass die besondere Würde der Person als Fundament der liberalen Kultur keinen Widerspruch zu den eigenen Traditionen darstellt, gehört zu den entscheidenden Lernerfahrungen der christlichen Ethik der Gegenwart - im Protestantismus ebenso wie im Katholizismus. Diese Einsicht ist ein hohes Gut, bildet sie doch die entscheidende Kraftquelle für das politische Engagement von Christinnen und Christen in der menschenrechtsgebundenen, rechtsstaatlich-liberalen Demokratie. Denn bei allen Unterschieden in konkreten politischen Entscheidungen finden sich alle darin wieder, für die Würde der Menschen einzutreten und das Handeln der Verantwortlichen und die notwendigen politischen Strukturen daran zu messen.

Das gilt gerade auch für die, die am Rand stehen. Jede und jeder Einzelne soll als Mensch in seiner eigenen, individuellen Würde in den Blick genommen werden. In dieser Hochschätzung des Individuums und seiner Selbstbestimmung gibt es keine Differenz zwischen dem Urteilstenor des Verfassungsgerichts und der Position der evangelischen Ethik. Die Selbstbestimmung anzuerkennen und zu fördern bedeutet selbstverständlich nicht, jede Handlungsweise gutzuheißen oder sich gar mit ihr zu identifizieren. Aber es bedeutet, den unterschiedlichen Formen, das eigene Leben zu gestalten, Respekt entgegenzubringen - auch wenn sich diese Gestaltung darauf bezieht, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen.

Noch einmal: Ein solcher Respekt heißt noch lange nicht, dieses Handeln zu begrüßen oder zu befördern. Aber er bedeutet, stets die eigenverantwortliche Person hinter den Handlungen zu sehen und sie nicht zu verurteilen. Leider gibt es im Umgang mit Suizidenten durch die Kirche eine lange Schuldgeschichte. Ihnen die kirchliche Bestattung oder die Sakramente zu verweigern war und ist falsch und lässt sich durch nichts rechtfertigen. Ein solcher Weg mit seinem Alleinlassen des Sterbewilligen scheint uns keine Alternative zu sein.

Treffen sich der Urteilstenor und die evangelische Ethik in der Zentralstellung der Selbstbestimmung, so setzt die evangelische Ethik dennoch eigene Akzente, wenn es um den Grund der Selbstbestimmung und die Einbettung der Einzelnen in die Gesellschaft geht. Mit den Reformatoren hat die evangelische Theologie stets darauf hingewiesen, dass das Nachdenken über die eigenen Grenzen ein wichtiger, ja sogar konstitutiver Bestandteil von Selbstbestimmung ist. Christliche Freiheit ist reflektierte Freiheit, die im Glauben an den Mensch Gewordenen, am Kreuz Gestorbenen und Auferstandenen unverzichtbare Orientierungspunkte erhält, um Freiheit von Getriebenheit und Triebhaftigkeit sowie Selbstbestimmung von Willkür zu unterscheiden.

Für den Kontext der Suizidbeihilfe sind zwei Aspekte, die sich daraus ergeben, von Bedeutung: Zum einen das Bewusstsein, dass die eigene Perspektive nicht alles ist, dass es, gerade auch im Leid, Grenzen dessen gibt, das wir verstehen und gestalten können. Zum anderen ist die Überzeugung leitend, dass Selbstbestimmung weder Selbstlosigkeit noch Selbstfixiertheit bedeutet, sondern eine Existenzform, die das eigene Leben ins Verhältnis zu anderen setzt. Glaubende wissen sich getragen von Gott und sehen ihre eigene Existenz immer auch in ihrem Verhältnis zu anderen.

In der häufig gebrauchten Kurzformel vom Leben als Gabe Gottes sind diese Überzeugungen ebenso verdichtet wie in der Betonung, dass sich in der Perspektive des Christentums Menschsein immer in Beziehungen vollzieht. Anders als das Recht und der Urteilsspruch des Verfassungsgerichts nimmt dabei die christliche Ethik die Beziehung zu anderen nicht vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Infragestellung, sondern als Ziel der Selbstbestimmung wahr. Sich dem Nächsten in derselben Intensität zuzuwenden wie sich selbst bildet den Kern christlicher Lebensführung.

Für die konkrete Fragestellung des assistierten Suizids bedeutet das zunächst, mit dem Verfassungsgericht realistisch zu sehen, dass die eigene Selbstbestimmung stets gefährdet ist durch die Erwartungen, die das eigene Umfeld an die Einzelnen richtet: Hier gilt es, sensibel die jeweiligen Kontexte wahrzunehmen und so weit wie möglich sicherzustellen, dass es sich wirklich um eine freiverantwortliche Entscheidung handelt. Eben auch darum stellt das Gericht dem Gesetzgeber die Aufgabe, diejenigen, die mit dem Gedanken des Suizids liebäugeln, davor zu schützen, dass von geschäftsmäßigen Angeboten der Suizidbeihilfe ein Erwartungsdruck ausgeht, diese Angebote auch wahrzunehmen.

Für ein solches Schutzkonzept wird die enge Zusammenarbeit mehrerer Professionen unverzichtbar sein. Da der Wunsch nach Beendigung des Lebens häufig Folge - behandelbarer - psychischer Erkrankungen oder akuter Störungen ist, kommt Ärztinnen und Ärzten eine durchaus hervorgehobene Rolle bei der Beurteilung der Freiverantwortlichkeit zu.

Deutlich schwieriger als die Abgrenzung eines solchen freiverantwortlichen, wohlüberlegten Suizidwunsches von einem, der aus einer psychischen Erkrankung oder einer akuten Notlage und somit eben nicht freiverantwortlich entsteht, stellen sich die Szenarien dar, bei denen die Freiverantwortlichkeit durch reale oder empfundene Verpflichtungen im unmittelbaren Nahbereich der Betroffenen ausschlaggebend ist. Wie lässt sich der häufig als Motiv für den Suizidwunsch artikulierten Befürchtung entgegentreten, den eigenen Angehörigen zur Last zu fallen? Und ist ein solches Entgegentreten überhaupt legitim, oder verbietet es der Respekt vor dem Persönlichkeitsrecht, den Suizidwilligen vom Gegenteil zu überzeugen?

Auf der anderen Seite kann es Christinnen und Christen gerade wegen der besonderen Bedeutung, die sie den Beziehungen für das Menschsein beimessen, nicht gleichgültig sein, wenn Menschen es als eine Last empfinden, von anderen Hilfe einzufordern. Eine häufig erhobene, ja auch durchaus berechtigte Forderung lautet in diesem Zusammenhang, die ökonomischen Rahmenbedingungen für die Pflege von Angehörigen zu verändern. Da diese Befürchtung allerdings häufig aufs engste mit Rollenbildern und Selbsterwartungen verbunden ist, sollte man sich jedenfalls nicht zu viel von der Veränderung der ökonomischen Rahmenbedingungen für die Pflege von Angehörigen erwarten, so wichtig dies auch bleibt.

Wichtiger und anspruchsvoller ist es, die entsprechenden Selbstbilder zu modifizieren. In beiden letztgenannten Bereichen kommt dem diakonischen und dem seelsorgerlichen Handeln eine besondere Bedeutung zu. Ihnen wird eine klare Option für die Schwachen attestiert, sie genießen - zumindest noch - das Vertrauen weiter Kreise der Bevölkerung.

Zu diesem Vertrauen gehört es auch, nicht vorschnell Partei zu ergreifen, etwa dadurch, dass von kirchlich-diakonischer Seite der assistierte Suizid als unvereinbar mit dem christlichen Glauben gebrandmarkt wird. Sicherzustellen, dass es sich um eine freiverantwortliche Entscheidung handelt, und zugleich Hilfen für ein Weiterleben auch in entsprechenden, besonders schwierigen Situationen anzubieten, wird dann umso besser gelingen, wenn die Akteure als unvoreingenommen wahrgenommen werden. Zu einer solchen Haltung der Neutralität gehört es auch, weder die Situation und das mit ihr möglicherweise verbundene Leid zu verklären noch den Einzelnen die Fähigkeit einer eigenverantwortlichen Entscheidung abzusprechen. Gerade kirchlich gebundene Akteure seien zudem an das Wort aus dem Matthäus-Evangelium erinnert: Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet (Mt 7,1). Achtet darauf, eure Anwaltschaft für die Schwachen nicht mit entmündigender Bevormundung zu verbinden.

Jedoch darf keinerlei Zweifel daran bestehen: Die Bedingung für jede ethische Akzeptanz der Suizidbeihilfe besteht darin, dass der Wunsch nach dem Suizid tatsächlich der Wunsch des Sterbewilligen ist und sich nicht auf die Beeinflussung durch andere zurückführen lässt. Dies sicherzustellen ist Aufgabe eines Schutzkonzeptes, das das Urteil zum Paragraphen 217 ausdrücklich angeregt hat. Dabei bleibt die ständige Verbesserung der palliativen Versorgung sowie der psychosozialen und seelsorglichen Begleitung von schwerst- und sterbenskranken Menschen in einer älter werdenden Gesellschaft eine wichtige gesellschaftliche und politische Daueraufgabe.

Der Schutz umfasst aber auch, die Zugänglichkeit eines assistierten, professionellen - und das meint: auf sichere und nicht qualvolle Weise vollzogenen - Suizids zu ermöglichen. Parallel dazu erscheint es aber, ebenfalls zum Schutz der Selbstbestimmung, sinnvoll und auch legitim, von den Suizidwilligen zu verlangen, sich vor der Inanspruchnahme eines assistierten Suizids von einer anerkannten Stelle beraten zu lassen. Auf dieser Grundlage könnte es möglich sein, die Interessen und auch die Schutzbedürfnisse aller Seiten bestmöglich zu erfüllen. Zugleich dürfte dies ein erfolgversprechendes Mittel sein, den Sterbehilfeorganisationen die Grundlage zu entziehen.

Dies vor Augen, könnte es auch eine Aufgabe kirchlich-diakonischer Einrichtungen sein, neben einer bestmöglichen medizinischen und pflegerischen Versorgung auch bestmögliche Rahmenbedingungen für eine Wahrung der Selbstbestimmung bereitzustellen. Angesichts der Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht die Selbstbestimmung am Lebensende nachdrücklich betont hat, erscheint es in der hier vorgestellten Perspektive möglich, auch die über eine Beratungspraxis ebenso wie durch eine umfassende Bereitstellung pflegerischer und palliativmedizinischer Angebote, einschließlich der palliativen Sedierung und der Begleitung bei einem wohlüberlegten Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit als Alternativen, abgesicherten Möglichkeiten eines assistierten Suizids in den eigenen Häusern anzubieten oder zumindest zuzulassen und zu begleiten.

Anstatt durch eine Verweigerung Suizidwillige dazu zu zwingen, sich auf die Suche nach - möglicherweise durchaus eigennützig und nicht im Interesse des Lebensschutzes handelnden - Organisationen zu machen, dürfte es sehr viel eher Ausdruck verantwortlichen Handelns sein, entsprechende Möglichkeiten durch besonders qualifizierte interdisziplinäre Teams in den Einrichtungen zuzulassen und dabei das familiäre Umfeld einzubeziehen.

Sichere Orte wären in dieser Perspektive kirchliche Einrichtungen nicht deswegen, weil sie bestmögliche Palliativversorgung gewährleisten und Sterben zulassen, sich aber dem Suizid verweigern, sondern weil sie einem Sterbewilligen unter kontrollierten und verantworteten Rahmenbedingungen in einem aus dem christlichen Glauben entspringenden Respekt vor der Selbstbestimmung Beratung, Unterstützung und Begleitung anbieten.

In diesem Rahmen dürfte auch zu überlegen sein, ob nicht den Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrern in dieser Beratung zusammen mit der Begleitung eine zentrale Rolle zukommen könnte. Denn gerade von ihnen könnte man sich am ehesten versprechen, einem durch die Suizidwilligen möglicherweise empfundenen Druck aus dem nahen Umfeld entgegenzuwirken. Im Sinne einer "erweiterten Kasualpraxis" könnte es aus der hier vertretenen Perspektive sinnvoll sein, die Begleitung der Angehörigen und die Begleitung der Sterbenden beziehungsweise Sterbewilligen als eine integrale Praxis zu begreifen.

Zugleich bedarf es für diesen Fall besonders geschulter Seelsorgerinnen und Seelsorger. Oft geht einem Suizid bei psychischer Erkrankung oder aus akuter Verzweiflung ein "Tunnelsyndrom" voraus. Auch bei psychisch gesunden Menschen mit schwerer unheilbarer Krankheit können Todeswunsch und Lebenswille nahezu gleichzeitig vorhanden sein. Sie wollen "so nicht mehr leben". Aufgabe einer ethisch informierten Seelsorge ist es deshalb, in einer empathisch-akzeptierenden Grundhaltung an die Vorstellungswelt des sterbewilligen Menschen anzuknüpfen und dessen Horizont zu weiten, über die womöglich noch nicht ausgeschöpften Möglichkeiten palliativer Medizin zu informieren und nicht zuletzt Kontakt zu den engsten Angehörigen, die durch die Entscheidung zum Suizid oftmals erheblich belastet sind, herzustellen.

Seelsorge ist dabei weder Komplize noch Moralagentur, sondern begleitet Menschen in einer akuten Lebenssituation reflektiert, prozessorientiert, respektvoll, solidarisch und realistisch. Nur wenn Suizidwillige den Eindruck bekommen, dass ihre Ängste und Nöte ernst genommen werden und ihre Selbstbestimmung geachtet wird, sind sie bereit, ihre Entscheidung gegebenenfalls noch einmal zu überdenken.

Eine solche Begleitung erscheint auch deswegen sinnvoll, weil jede Regelung, aber auch jede Zuwendung und Hilfeleistung in diesem Bereich ein unauflösbares Dilemma nicht beseitigen kann: den Konflikt zwischen dem Respekt vor der Person, die unter den gegebenen Bedingungen ihr Leben beenden möchte, und dem Respekt vor all denen, die ebenfalls als Ausdruck ihrer Selbstbestimmung weder genötigt werden wollen, Suizidbeihilfe in welcher Form auch immer zu leisten, noch selbst durch ein vermeintliches Recht auf Bereitstellung von Suizidassistenz subtil unter Druck gesetzt zu werden.

Zieht man alle übertriebene Kritik an dem Selbstbestimmungsparadigma ab, so bleibt dieser Aspekt das berechtigte Anliegen derer, die sich seinerzeit für das Verbot geschäftsmäßiger Suizidbeihilfe starkgemacht hatten. In einem Beitrag für die "Zeitschrift für Evangelische Ethik" (Heft 4/2020) hat der emeritierte Zürcher Ethiker Johannes Fischer auf diesen Sachverhalt hingewiesen: Es gilt zurückzuweisen, dass der assistierte Suizid zur gesellschaftlichen Normalität wird, und zwar nicht gegen, sondern im Interesse des Rechts auf Selbstbestimmung im Sterben.

Das Dilemma, das sich hier auftut, lässt sich nicht beseitigen, es lässt sich in seinen Härten höchstens abmildern. Der umfassende Ausbau der Palliativversorgung als einer Versorgung, die nicht nur die körperlichen Leiden, sondern auch die psychische Situation, das Umfeld der Angehörigen und Freunde sowie das weite Feld von Sinnsuche und Spiritualität in den Blick nimmt, ist hier zu nennen. Die Palliative Care Teams, die sich derzeit in vielen Krankenhäusern und Hospizen bilden, nehmen in diesem Sinn nicht nur die medizinischen, sondern auch die existentiellen und spirituellen Bedürfnisse und Nöte von sterbewilligen Menschen in den Blick.

Auch hier spielen die Seelsorgerinnen und Seelsorger eine wichtige Rolle. Es ist ein offenes Geheimnis, dass diese Begleitung nur mit zusätzlichen finanziellen Aufwendungen zu realisieren sein wird, auch wenn eine solche integrale Perspektive mittelfristig sicher die Kosten für teure und eher der Hilflosigkeit denn der Nutzenerwartung geschuldete Therapieformen beispielsweise in der Onkologie reduzieren würde. Bei einem solchen Ausbau sollten sich auch die Kirchen in der Pflicht sehen, ihr Engagement in der seelsorgerlichen Begleitung zu intensivieren, und zwar in dem genannten Sinne über das engere Bezugsfeld der Klinik hinaus. Doch alle diese Angebote dürfen auf der anderen Seite nicht dazu führen, selbst einen subtilen Druck zu erzeugen und untergründig eine bestimmte Normierung des Sterbens zu propagieren - in diesem Fall eben nicht als assistierter Suizid, sondern etwa als bewusster Sterbeprozess in einem Hospiz.

Ein Problem soll abschließend nicht verschwiegen werden: Wie wird die Qualitätssicherung der tatsächlich durch Ärztinnen und Ärzte geleisteten Beihilfe zum Suizid gewährleistet? Und vor allem: Gibt es genügend Ärztinnen und Ärzte, die sich zur Suizidbeihilfe bereitfinden? Hier ist ein intensiver weiterer Austausch mit der Ärzteschaft vonnöten, aber ebenso auch mit dem Pflegepersonal. Denn eine entsprechende Entscheidung, so sehr sie letztlich durch Ärztinnen und Ärzte verantwortet werden muss, muss immer auch getragen sein durch das gesamte multiprofessionelle Behandlungsteam.

Die Herausforderung dürfte darum auch aus dieser Perspektive darin bestehen, Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Einzelne in ihrer individuellen Situation professionelle Unterstützungsangebote auch für den Suizid vorfinden, ohne dass eine Normalisierung eintritt und der assistierte Suizid eine gesellschaftlich von Ärztinnen und Ärzten selbstverständlich erwartbare Leistung wird. Unter diesen Bedingungen dürfte eine solche Umgebung allerdings eine Möglichkeit darstellen, der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe die Grundlage zu entziehen - und damit das Ziel des Paragraphen 217 StGB ohne dessen problematische Konsequenzen zu verwirklichen.

Der Text ist das Ergebnis eines gemeinsamen Diskussionsprozesses mit Landesbischof Ralf Meister (Hannover), Professor Dr. jur. Jacob Joussen (Bochum), Mitglied des Rates der EKD, und dem Palliativmediziner Professor Dr. med. Friedemann Nauck (Göttingen)

© Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt.

Anmerkung: Die zeitzeichen gGmbH hat die Nutzungsrechte von der FAZ erworben und dankt Reiner Anselm und Isolde Karle für die Erlaubnis zur Dokumentation des Textes.

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Foto: Rolf Zöllner

Ulrich Lilie

Ulrich Lilie (geboren 1957) studierte evangelische Theologie in Bonn, Göttingen und Hamburg. Bis 2011 arbeitete er unter anderem als Krankenhausseelsorger mit dem Zusatzauftrag der Leitung und Seelsorge im Hospiz am Evangelischen Krankenhaus Düsseldorf. 2011 übernahm Lilie den Theologischen Vorstand der Graf-Recke-Stiftung in Düsseldorf. Seit 2014 ist er Präsident der Diakonie Deutschland.


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